Sie steht auf ihrem Flurstück und schaut. Sie, Dora, Neudörflerin. Dora beschließt, dass aus bloßem Schauen nichts werden kann. Wer zu viel grübelt, leistet nichts, schöner Wahlspruch im Charlottenburger Rathaus. Heute wird also gebrackt. Es wird ordentlich gebrackt und ihr Flurstück mit dem alten Gutsverwalterhaus bietet viel Spielwiese zum Bracken. Nochmal kräftig bracken, denkt Dora. Dabei ist Bracken gar keine Tätigkeit, sondern ein Zustand. Ein dörfliches Gefilde 18 Kilometer vom nächsten Supermarkt entfernt. Bracken, eineinhalb Stunden vor den Toren Berlins. Lichtjahre weg vom ersten Lockdown-Corona-Urlaub der Bundeshauptstadt.
Dora, 36, ziemlich erfolgreiche Werberin, will etwas Eigenes und kauft ein Haus. Ihr Haus, irgendwo im Nirgendwo. Aus komischer Vorahnung oder dem Wunsch nach einem eigenen Projekt-Projekt. Ihr Freund Robert, Alter unspezifisch, ökoesker Online-Redakteur, vergöttert Greta und alle Damen und Herren, die den 1000-prozentigen Lockdown wollen. Sofort! Schmerzhaft! Also tauscht Dora Robert, Robert Koch wie sie ihn nennt, gegen Gote aus, jedenfalls als Nachbar und Studienobjekt. Gote gehört das Flurstück nebenan, der nicht nur sinnbildlich am rechten, am ganz rechten Rand seines Grundstücks steht. Und dann? Was dann? Eine E-Mail sonntags von Susanne aus der Agentur: Liebe Dora, du weißt, wir sind fair. Wir setzen auf Zusammenhalt und Solidarität. Nun wurde leider, leider auch dein Etat eingefroren. Es tut mir leid, aber deine Zeit … Herzlich, Susanne. Corona, Lockdown, Shuttdown, flatting the curve. Bracken. Backen. Weiterbracken.
Demonstrativ befindet sich Dora in guter Nachbarschaft einer priegnitzer Dorfgemeinschaft. Einer Gegend also, wo unter Leuten viele Übermenschen zu finden sind. Juli Zeh baut erneut ein Ensemble stereotyper Persönlichkeiten im Hier und Jetzt, denen es manchmal an Liebenswürdigkeit, aber nicht weniger an Wirklichkeitsnähe mangelt. Die große Losung, den Brackener Wahlspruch, gibt Steffen aus, irgendwas um die 40, Ernst-Busch-Absolvent und Neufloristiker:
„‘Weiß du, was man hier draußen lernt? […] Es geht nicht darum, Widersprüche aufzulösen‘, sagt Steffen, ‚sondern sie auszuhalten‘“ (S. 161 f.).
„Übermenschen“ ist ein Roman für die Menschen in Berlin, über die Menschen in Berlin. 412 Seiten über Frühkartoffeln, Spätkartoffeln, Salzkartoffeln, die anders aussehen, sich anders anfühlen, anders schmecken. Alles Kartoffeln, denen Haltung wichtig ist. Wichtig für Dora wird das Trotzdem – Gliom, Blastom, Karzinom, Astrozytom, völkische Raumforderung – trotzdem.
Juli Zehs Brandenburg-2.0-Roman fragt, gibt Impulse, belichtet dunkle Ecken, schmettert Stichworte, nimmt wenig hin. „Über Menschen“ ist philosophisches Quartett und mitreißender Gegenwartsroman. Mit konstruktiver Lebensinhaltsleere sucht die Protagonistin Dora ihren Weg aus der selbstgewählten Unmündigkeit. Schwarz – weiß, schwarz – weiß. In rasanter Helmut-Krausser-Sprache gibt Zeh Menschen eine Stimme, die man im S-Bahnring nicht sehen, spüren, riechen will. Es riecht nach Corona, nach Schattierungen, nach Widerspruch, nach Aushalten. Mein Fazit: In der zurückgenommenen Thematisierung der letzten 12 Monate, ohne als Monstranz über jeden Acker gejagt zu werden, liegt eine große Stärke des Romans. Die zweite Stärkte ist Zehs kritisches Fragen, ihre Tiefenschärfe. Drittens ist „Über Menschen“ ein ausgezeichneter Unterhaltungsroman, der Aktuelles gesellschaftspolitisch inspirierend verhandelt. Nicht nur ich habe auf genau diesen Roman gewartet. Weiterbracken!
- Gelesen im April 2021
- Ich danke dem Luchterhand Literaturverlag sehr herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.
Eine Antwort auf „‚Über Menschen‘ von Juli Zeh“