Neulich hatte ich ein paar freie Tage und beschloss, sehr viel Erde durch die märkische Sandstreubüchse von A nach B zu schubkarren. Eine völlig verkrautete Fläche urbar machen, war mein ambitioniertes Vorhaben. Juli Zeh würde es bracken nennen – ich entschied mich für schippen, was weniger nach einem Musikfestival klingt oder Ausscheidungen assoziiert. Wie dem auch sei, am dritten Tag meiner Schipperei ließen mir zwei wunderbare Vergleiche keine Ruhe: Einerseits Michael als homo faber, der nun auch ganz praktisch Hands-on im Anthropozän den Planeten umgestaltet – in diesem Falle zum Aufforsten der Obstbäume und hummelfreundlichen Sträucher und Stauden.
Andererseits ist diese Arbeit, dieses Schippen und Schubkarren, wie stetes Graben durch gut sortierte Buchhandlungen. Dieses Graben liebe ich ja so sehr wie Schippen. Kürzlich stieß ich auf ein Buch, das die Frage stellte, ob sie uns mit FlixBus deportieren werden. Auf solche Provokationen reagiert mein Sonar für Leckerbissen ganz besonders schnell mit neugierigem Interesse. Und Mely Kiyak im Geiste dazu mit Augenzwinkern: Ha, angebissen, du Tölpel.
Nun, frei zitiert von Seite 30, kurbelt Mely Kiyak dann den roten Samtvorhang zur Seite, motiviert die feinen Damen und Herren, ihre Halspastillen zu lutschen, um uns, Ihnen, mir durch einen Bronchialtsunami nicht die Lesevorstellung zu versauen. Und ich muss sagen: Das hat wirklich ganz prima funktioniert. Denn Kiyak verdient ihr Geld mit Dingen, mit denen sich andere die Freizeit vertreiben. Sie schaut Theater, liest super viel Zeitung – Bunte, Gala, F.A.Z. – und manchmal wohnt sie im deutschen Talkshowfernsehen. Darüber schreibt sie anschließend in ihrer Kolumne für das Gorki. Wenn man so will, sind wir Kolleg:innen. Glückwunsch! Glückwunsch an Mely Kiyak und Glückwunsch an Sie, liebe Leser:innen, dass Sie, die nicht ihre Gorki-Kolumne kennen, nun in die Gelegenheit versetzt werden, dies ganz proaktiv zu ändern.
Denn Mely Kiyaks Buch ‚Werden sie uns mit FlixBus deportieren?‘ ist die Auswahl überarbeiteter Theaterkolumnen. Und diese Texte sind heiß, pikant gewürzt. Achtung an der Gaumenwurzel! Mal als freundliches Nudging und mal als intellektueller Punchingball in die von dumpfem Mundgeruch befallene Hohlkammer aller Markus Söders und Alexander Gaulands dieser Republik. Besondere Qualität ist Kiyaks Haltung, die ohne Umschweife klar politisch argumentiert. Migration, Rechtsextremismus, „Wir schaffen das“ und noch viel mehr sind ihre Themenkomplexe, manchmal allerdings auch etwas drüber. Ein Stück weit wie Anna Opels anfassendes ‚RUTH.Moabit‘ gleichzeitig mit politisch kontextualisiertem Blick zurück in die jüngste Vergangenheit.
Klar, 221 Seiten verschriftlichte Weltsicht einer Theaterkolumnisten kommen nicht ohne Theater aus.
„Ich lobe normalerweise keine Gorki-Kollegen, weil das wie PR durch die Hintertür ist. Ich bin hier schließlich nicht als Marketing-Uschi beschäftigt. Aber erstens ist Wodianka schon lange in Zürich engagiert. Und zweitens: DANN IST ES EBEN SCHEISS-PR!!! NA UND? Immer noch besser, als sich von Welt Online haarklein erklären zu lassen, wie man bumst und sich ‚ne Stulle schmiert.“ (S. 198)
- Gelesen im August 2022
- Was für ein großartiger Zufallsfund im literarischen Gemüsegarten in der Dortmunder Straße 1 in Moabit.
Ich finde ja, dass „was weniger nach einem Musikfestival klingt oder Ausscheidungen assoziiert.“ durchaus mit dem Titel des vorgestellten Buches mithalten kann. 🙂 Zumal es mich daran erinnert, dass ich mich über Juli Zehs „bracken“, das klein- wie das großgeschriebene, ja auch zeitnah noch auslassen muss. Darf. Nein, muss.
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