Berlin hat Hochkonjunktur bei jährlich 50.000 Zuzügen netto. Und ganz besonders literarisch. Hochkonjunktur, weil Berlin absolut das hat, was die kleinen Schwestern zusammen nicht auf die Waage bringen: Hamburg, Köln, München. Schon gar nicht München. Und all die anderen Käffer ohne ICE-Halt. Gesellschaftlich gehts ab und durch alle Schichten, alle Milieus. Von Caro aka Chantal, Studentin in der Trabantenstadt Potsdam, über zwei Doktoranden des Professors Frederick Reitlinger. Ja, sogar Reitlinger selbst ist tragend und ertragend. Bishin zur Affäre seiner Frau. Und, liebe Schlagerfreunde aus Nord-Neukölln, Fred, wie Vertraute den Archäologie-Guru nennen, ist auch als Vater nicht von schlechten Eltern: libertär, rücksichtsvoll, mondän, manchmal zu gönnerhaft. Weit- und nachsichtig auf Westberliner Art.
Denn Professor Frederick Reitlinger „fand das niederschmetternd und hätte sich gewünscht, sein Sohn hätte auf komplett andere Art gegen ihn revoltiert, wäre den Weg der Freiheit gegangen, wäre ein Penner geworden, ein moderner Diogenes. Das hätte Fred noch irgendwie verstanden und gebilligt. Stattdessen hatte Ansgar sich zu einer Art Finanzhai entwickelt, zum glatten, neoliberalen Gierschlund“ (S. 49 f.).
Ausgewogen und kundig ist Helmut Kraussers Berliner Mischung. Das verrottete Gaslaternen-Museum im Großen Tiergarten bekommt eine Bühne. Auch Sex und moderne Beziehungsmodelle. Die Liebermann-Villa neben Reitlingers Wannseehaus – nur kurz, aber immerhin. Ein Sittengemälde mit großem Pinsel schnell gezeichnet. Auch mit feinen Schattierungen und berauschenden Nuancen illuminiert. Mehrfach musste ich lesend den Impuls unterdrücken, im staatsbibliothekaren Co-Working-Space schallend loszulachen. Auch das zeugt von großer Sachkunde. Und Sarkasmus, der als Humor verkleidet beim Leser, stets bissig und latent verletzend, innere Beifallstürme auslöst. Anders formuliert sind Kraussers ‚Trennungen. Verbrennungen‘ moderne Irrungen, Wirrungen. Und völlig belanglos. Darin liegt die ungeheure Stärke! Belletristischer RTL-2-Frauentausch für geneigte Großstadt-Intellektuelle. Ein Sittengemälde wie gemacht fürs große Kino. Das Straßenkino am Rosenthaler Platz. Das Pornokino in der Altstadt Spandau.
Krausser beweist Selbstironie, die hyperlustig, bisweilen selbstgefällig orchestriert, die Charaktere der Stadt seziert. Ein sprachlich fulminanter Schlagabtausch der Eitelkeiten. „Völlig unglaublich, flüsterte Sonja, man würde zu lästern beginnen, würde man so ein Detail in einem Roman lesen“ (S. 30). Es ist die Form, die Krausser perfekt beherrscht. Ineinander verwobene Alltagsepisoden, die sich kreuzen, beeinflussen, bloßstellen und zeitgemäß das Berliner Sujet deklamieren. Das kann ‚Trennungen. Verbrennungen‘ gut. Sehr gut sogar, stellenweise ausgezeichnet! Ich sage: Auf Hauptstadtniveau. Sie kennen Berlin und wissen, wo krude U-Bahn-Chansonetten auf Hochglanz-Lichtenberger treffen? Juppi- Savignyplätzchen auf zähe Zehlendorfer? Wilmersdorfer Witwen auf allgemeine Mittelmäßigkeit? Krausser weiß es und hat sie eingefangen.
Drei Jahre und 18 Verwaltungsvorgänge für einen Zebrastreifen braucht die Stadt. Be sorgt, be stürzt, be Berlin. Be Weltklasse! Die 254 Seiten sind weit mehr als das. Nach Kraussers letzten Griff ins Klo, sind ‚Trennungen. Verbrennungen‘ wie feinstes Koks auf silbernem Tablett. Mein Fazit: Großer Berlin-Roman mit Großstadtrauschen. Ohne Ziel und ohne Bremsen mit Gisela queer durch die Stadt. Bis sie abhebt und zwar steil. Wie ‚Einsamkeit und Sex und Mitleid‘ nur besser. Ohne Sprach- und Denkverbote. Ohne Auf-die-Nerven-gehen. Wie Linie 1 nur anders und zum Lesen. Großes Muss im literarischen Sommer 2019.
- Gelesen im Mai 2019
- Aufmerksam geworden durch eine inspirierende Besprechung im Büchermarkt vom 16. April 2019.
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