Er war nur kurze Zeit bei Hutte in der Detektei irgendwann Mitte der 60er Jahre. Blutjung war Jean damals, Jean Eyben, als er das Dossier von Noëlle Lefebvre auf den Schreibtisch bekam. In einer blauen Mappe, ein blauer Einband war es, und in dieser Mappe lag das Dossier. Unvollständig, nur wenige Namen, die Jean in den 15. Arrondissement führten. Ein Café am Quai, eine Bar, die oberirdische Metrostation, der Fluss, die Menschen, ganz anders, verblüffend anders als in seinem Paris.
Irgendwann, viel später, erinnert sich Jean an diese Zeit. Sie lässt keine Ruhe. Noëlle Lefebvre lässt keine Ruhe und 15, vielleicht 20 Jahre später streift Jean erneut durch die Straßen im 15. Arrondissement. Das Café, die Bar? Verschwunden. Die Häuser abgerissen bis auf das große, rote Eingangsschild. Jean greift zur blauen Mappe, zu Huttes Dossier, zu Noëlles Tagebuch, das er irgendwann – irgendwann vor 20 Jahren muss es gewesen sein – in Noëlles Wohnung gefunden hatte. Im Nachtschrank. Aus welchem Dorf kam sie noch? Irgendwo bei Annecy, nicht wahr? War nicht auch Jean in der Haute-Savoie? Was sagst du, Jean?
„Mir ist, als wäre alles schon geschrieben, mit magischer Tinte […] Vielleicht zeigt sich irgendwo auf einer Seite allmählich das, was mit unsichtbarer Tinte aufgezeichnet ist“ (S. 93).
Erinnerungen. Was sind Erinnerungen? Ein Dossier in blauer Mappe? Die chronologische Reihenfolge, eine Abfolge von Ereignissen? Der Ich-Erzähler Jean versucht diese Frage für sich befriedigend zu beantworten. Retrospektiv schlägt er 50, 60 Jahre später die weißen Seiten, seine Leerstellen im eigenen Tagebuch auf. Patrick Modiano sucht retrospektiv nach den Spuren der Menschen. Der Menschen hinter den Fenstern im Pariser Quartier Grenelle.
In seinem aktuellen Roman ‚Unsichtbare Tinte‘ arrangiert Modiano die verschwundene Noëlle Lefebvre neben dem Berufsanfänger Jean Eyben – Protagonis und unbekannte Antagonistin. Handlungsort ist das Verschwundene, das Vergessene. Dabei hat Modiano die Reduktion zum eigentlichen Inhalt gewählt. Die fiktive Autobiografie des Ich-Erzählers, das Schreiben als innerer Monolog, wird auf 142 Seiten zur gedehnten Zeitlosigkeit. Diese faszinierende Form, die sich erst auf den zweiten, den dritten Blick erschließt, verlangt als Kehrseite Geduld. Mit schlürfendem Tempo lässt der Autor sein ungleiches Paar Hase und Igel spielen, wobei niemand rennt, niemand bemüht sich um Ausschweife, kein Exzess. Keine Wellen auf der Seine. Nicht mal Stürme im Wasserglas. Es ist der glatte Spiegel der Erinnerung, der bis aufs Äußerste gleich und doch Bläschen bildet, Reflektionen im Sonnenlicht der Erinnerung.
Mein Fazit: Nehmen Sie sich die Zeit für die unsichtbare Tinte auf Ihren Seiten.
- Gelesen im April 2021
- Aufmerksam geworden durch die Rezension von Marie Schmidt in der Süddeutschen vom 20. Feburar 2021.