„Ole Reuter in 20 Jahren! […] Ich warte noch eine Weile erfolglos und gehe dann doch lieber zum Bahnhof. Meine Art des Reisens ist ideal: Ich komme immer rechtzeitig zum Zug, ganz gleich, wann ich eintreffe“ (S. 72). So soll es sein, das Reisen. Und Ole Reuter, Referendar und werdender Lehrer, hat Zeit. Zeit für die erste wirkliche Lebenskrise. Sinnkrise am Ende des Studiums auf dem Sprung ins richtige Leben. Ole springt lieber auf die nächste Bahn, auf die S-Bahn nach Freilassing, den Nachtzug nach Konstanz, den Personenzug nach Kiel und Flensburg, den Intercity nach Köln. Nach Köln zu Judith und das Drama beginnt.
‚Netzkarte‘ von Sten Nadolny ist eine Zeitreise in die alte Bundesrepublik. Verkehrsmittel der ersten Wahl und stetiger Begleiter ist die Bundesbahn, eine Behörde, eine Institution. Der Protagonist und Ich-Erzähler Ole Reuter hadert mich sich, dem Leben, seinem vorgezeichneten beruflichem Werdegang und beschließt wenige Wochen vor dem zweiten Staatsexamen, die Insel West-Berlin zu verlassen. Ole ersteht eine Netzkarte, den Freifahrtschein für 30.000 Kilometer kreuz und quer durch die Bundesrepublik. Sein Ziel ist der Weg. Sein Anspruch Inspiration durch Kontemplation. Ganz praktisch und real gemeint auf dem Sprung in den nächsten Zug.
Nadolny hat den 190 Seiten umfassenden Roman aus Tagebucheinträgen verfasst, die mal hier, mal da, vielleicht auch dort, zeitlich versetzt zwischen 1976 und 1980 zu Papier gebracht wurden – vermutlich handschriftlich auf rollendem Material. Formal gliedert der Autor seine ‚Netzkarte‘ dichotom, verbunden durch eine Episode, einen dramaturgischen Höhepunkt im Leben des Protagonisten. Teil Eins der Reuter’schen Reise handelt von der Suche nach Sinn und Verstand, der Suche und zwar der einen. In Köln trifft Ole ganz unverhofft Judith und die nächsten vier Jahre, von denen der zweite Teil berichtet wird, werden Kilometer für Kilometer, Zug um Zug rekapituliert. Und Ole stellt fest:
„Im Kursbuch sind seit 1976 einige kleine Strecken weggefallen […] Wir leben nach der Eiszeit und vor der Zwischeneiszeit, die Bundesbahn schmilzt unmerklich dahin; irgendwann gibt es nur noch Intercities, Güterzüge und Werkbahnen. Und in der Provinz kilometerlange schmale Blumenbeete“ (S. 116).
Nadolnys ‚Netzkarte‘ ist ein Schatz. Erinnerungen aus Oles Leben, Erinnerungen verbunden mit Zukunftswünschen und der Suche nach dem Wohin. Metapher für alles ist die Bahn, die Bundesbahn, die es seit 30 Jahren nicht mehr gibt. Nadolny präsentiert in sachlicher Sprache das Lebensgefühl einer Generation, deren Welt zwar begrenzt und doch geprägt ist von Neugier und nahezu unendlichen Möglichkeiten. Oles Reise ist meine ‚Friedensfahrt 2020‘. Denn Ole hält an, steigt ein, schaut raus, steigt aus, um wieder einzusteigen, loszufahren. In Wilhelmsthal trifft er ein Mädchen. Ole erklärt ihr auf Seite 73, dass er sie küssen wollte und warum er es nicht tat. Schließt tut er es doch. So wie Jakob, damals, vorm Hebedas, und ich, zehn Jahre später. Mein Fazit: Allzeit gute Fahrt!
- Gelesen im März 2021
- Ganz herzlichen Dank für deine großartige Empfehlung, lieber Frank.
Eine Antwort auf „‚Netzkarte‘ von Sten Nadolny“