‚Lass uns von hier verschwinden‘ von Julian Mars

„Ich schloss noch einmal die Augen und dachte darüber nach, dass es echt anstrengend sein musste, irgendwann mal vierzig zu sein. Weil sich dann wirklich überall die Leichen stapeln würden, die man bis dahin im Keller hat. Da wäre abends auszugehen wahrscheinlich wie Minesweeper zu spielen.“ (S. 55)

Genau vor diesem Hintergrund entschließt sich Felix, die Provinz zu verlassen und sein Glück in Schöneberg zu suchen. Dass Martin der eigentliche Grund ist, vernachlässigen wir an dieser Stelle. Felix jedenfalls, Mittzwanziger ohne Studium, aber Geld hat auf dem dicken Familienkonto und mit einer Schwerster, die leicht neurotisch sein Leben in geordnete Bahnen lenkt. Und Emilie natürlich, die als gute Fee mit einem ganz besonderen Angebot um die Ecke kommt.

Immer ist die große Frage: Was bleibt? Sind es die Freunde, die wilden Nächte, Männer? Oder die verbindlichen Dinge, die einen zweiten Versuch verdienen? Vielleicht beides? Der sympathisch verhuschte Protagonist Felix steht nach dem ersten Lebensdrittel vor der ersten krassen Wegscheide. Während im ersten Teil von Julian Mars‘ queerer Coming-of-Age-Twentiens-Trilogie ‚Jetzt sind wir jung‘ Felix von einem Realitätskometen nach dem anderen getroffen wird, ist Hamburg längst nicht mehr genug. Hamburg als Symbol für sein altes Ego und der permanenten Suche nach sich selbst. Am Ende der 277 Seiten von ‚Lass uns von hier verschwinden‘ kann Felix viele kleine, vielleicht auch große Fragen beantworten. Und wissen Sie was? Es macht Spaß, zu lesen, wie dieser Junge auf der Suche nach seinem Platz in der Welt keinen vorgezeichneten Weg geht – aber seinen.

Julian Mars‘ Fortsetzungsroman ist gute Unterhaltung. Positiv überraschend wirken den obligatorischen Fragen im Leben der meisten queeren Menschen, die er by the way mitverhandelt. Im Rangieren zwischen coolen Dialogen und Einordnungen des Ich-Erzählers bleibt Mars sprachlich auf solidem Bunte-Niveau. Ich finde, in diesem Fall gar kein Fehler, wenn Spannungsbogen und Charakterskizzen viel Platz zum Wohlfühlen lassen.

„Das Europa-Center am Breitscheidplatz wirkte immer ein bisschen wie die versoffene Schwester des KaDeWe, die ihr Leben lang nur Pech mit Männern gehabt hatte.“ (S. 174)

Ob Felix bislang nur Pech mit Männern hatte, bleibt spekulativ. Was wir wissen, ist, dass lange Nächte in dunklen Kellern wahrscheinlich nicht auf Dauer zur persönlichen Zufriedenheit beitragen. Mit gekühltem Champagner im Glas ist ‚Lass uns von hier verschwinden‘ ein Sommerroman, der mit Witz in gut verdaulichen Häppchen als kuschlige Wohlfühl-Vorabend-Serie daherkommt. Ein Roman also, der für breites Publikum queere Lebensrealität kontextualisiert, ohne phrasenhaft zu klassieren. Ein Roman, der mit viel Witz und sweeter Bissigkeit als Knutschfleck in Erinnerung bleibt. Und als kleiner Draufgänger freu ich mich ganz zappelig auf das große Finale!

  • Gelesen im August 2022
  • Eine schöne Entdeckung auf Books are gay as fuck und schöne Erinnerung an den ersten Teil – danke Stefan -, den ich leider weniger gut fand.

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