‚Das Vorkommnis‘ von Julia Schoch

Mit der Tür ins Haus fallen. Oder einfach auf einer Lesereise unerwartete Wahrheiten verkünden: „Übrigens haben wir denselben Vater.“ Wie geht man um mit derlei Neuigkeiten? Womöglich auch noch unverhofften in beiderlei Richtung. Auf einer Lesereise mitten bei der Arbeit sozusagen, auf der es andere Dinge gilt, zu tun. Lesen zum Beispiel und signieren. Ein Schock der aufgearbeitet gehört für die Autorin, die auch vor diesem Hintergrund einen ganzen Ozean zwischen sich und der alten, scheinbar aus den Fugen geratenen Welt bringen muss.

Ein Auslandsaufenthalt in den USA steht an. Rauskommen – auch wenn Winter herrscht und die Gegend um Chicago gerade in diesem Jahr einen ungewöhnlich harten und langen erlebt. Es hilft alles nichts: Nutze die Zeit. Schreibe. Doch es geht nicht. Sind es die Gedanken um den erkrankten Vater? Dem Vater, der noch eine Tochter hat, von der er faktisch nie berichtete? Die Quittung einer Unterhaltszahlung habe die Mutter einmal gefunden. Und nun? Nun sitzt die Mutter, mit Tochter und Enkelin, im weiten, kalten Amerika, ohne die Schwere der vielen Jahre davor zu spüren. Und die Tochter? Steht ratlos dieser banalen wie weitreichenden Neuigkeit gegenüber.

„Doch was weiß man von der Liebe, dem Leben seiner Eltern vor der eigenen Geburt, diesem undurchdringlichen Raum, dem Vorzimmer zum eigenen Leben. (S. 19)

Diskurse prägen soziale Wirklichkeit, wie eben das Bewusstsein das Sein beeinflusst und nicht umgekehrt. Folgt man dieser nicht untrivialen Logik, hat Julia Schoch in ihrem neuen Roman ‚Das Vorkommnis‘ eine Protagonistin ins Zentrum gestellt, die – fachmännisch formuliert – aus einer tiefen Sinnkrise unbeholfen nach Auswegen sucht. Anders formuliert: Sie jammert. Und leider ist diese Larmoyanz beinahe unerträglich. Nicht etwa, dass die Ich-Erzählerin sich ständig über Nichtigkeiten beklagt. Die mentale Tonalität, die die Autorin Julia Schoch der namenlosen Romanautorin in Mund den legt, führt unweigerlich zu der Frage: Wie mühsam können 191 Seiten eigentlich sein?

Dabei ist Julia Schoch bekannt für das Gegenteil behäbigen Schreibens. Mit großer Freude habe ich ‚Schöne Seelen und Komplizen‘ gelesen und mit überraschtem Hallo ihren neuen Roman zur Kenntnis genommen. Andererseits: Begeistert hat Hubert Winkels ‚Das Vorkommnis‘ auch nicht besprochen. Der besondere Reiz liegt in der thematischen Neuzuwendung der Autorin. Im Gegensatz zu ihren bisherigen Arbeiten ist die Gegenwart Handlungszeit mit Repliken auf frühere Jahre. Zudem ist ‚Das Vorkommnis‘ der Auftakt zu einer Trilogie mit dem Titel ‚Biografie einer Frau‘, auf deren Fortsetzung meine Freude durchaus verhalten ist.

„Ich fühlte mich trotz meines Kummers stark. Es war, als hätte mir jemand gesagt: Es ist alles in Ordnung, auch ohne Wegweiser, ohne Plan, ohne Gott.“ (S.134)

Na immerhin!

  • Gelesen im August 2022
  • Aufmerksam geworden durch die Rezension aus der Süddeutschen Zeitung vom 26. März 2022.

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