Es ist soweit: Der Wilde Mann wird kommen. Dieses Fest, das Fest des Wilden Mannes, ersehnen alle herbei. Seit Jahrzehnten und Jahrhunderten feiern sie das Fest nach altem Ritual. Die kleine Susanna Faesch hingegen bemerkt schnell, dass der Wilde Mann kein Wilder Mann ist, sondern der Kutscherknecht Anton Morgenthaler. Ob sich Susanna an die späteren gemeinsamen Kutschfahrten erinnert? Als sie vor seinem Bock steht und Morgenthaler fluchend die Bremse zieht? Ihre Freundschaft hält kurz, denn Susannas Neugier treibt sie weiter. Wie ihre Mutter treibt es sie weiter, wenn auch aus anderen Beweggründen.
Als der Deutsche Karl Valentiny – ein Freund der Familie sozusagen – während der 48er/49er-Revolution als Unterstützer der neuen Ordnung verdächtigt wird, flieht er nach Basel ins Hause Faesch. Maria nimmt ihn gastlich auf und erfreut sich seiner Gesellschaft. Doch als er abreist, die Passage nach New York ist schnell gebucht, entschließt sich Susannas Mutter, ihm mit Susanna nachzuziehen. Lukas Faesch, im pietistischen Alltag ein wichtiger Mann der Stadt, lässt sie ohne Zögern. Und sie folgen Valentiny in die Neue Welt: Sie treffen ihn, leben mit ihm und leben als Amerikaner:innen ein gutes Leben, als die Brooklyn Bridge im elektrischen Licht erstrahlt.
Alex Capus‘ Roman ‚Susanna‘ schildert auf 286 Seiten das ungewöhnliche Leben der authentischen Susanna Faesch. Kapitelweise verfasst Capus kurze Lebensberichte, Anekdoten des Alltags der verschiedenen Protagonist:innen – mal aus dem Leben Valentinys, mal aus Sicht der Maria Faesch, mal aus dem Leben des Vaters, der während seiner besten Jahre in der Fremdenlegion in Afrika diente. Alex Capus ist ein Meister authentischer Märchen. Moderner Märchen, die harmonisch erzählt den Weg der Alten Welt in die hoffnungsvolle und ambivalente, auf jeden Fall aber unweigerliche Moderne zeichnen.
„Susanna wollte überhaupt keinen Lebensweg einschlagen. Für sie gab es keine Wege. Es gab nur Schritte, die sie machen würde. Einen Schritt um den anderen, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Im Rückblick würden sich diese möglicherweise zu einem Weg addieren […] Aber vorgezeichnet war er nicht.“ (S. 128)
Alex Capus‘ Romane sind Romane fürs Gemüt. Wie ‘Königskinder‘ oder ‚Das Leben ist gut‘ fügt sich ‚Susanna‘ ganz wunderbar in seinen Kanon freudvoller Literatur. So ist ‚Susanna‘ ein Roman, in dessen Zentrum große Umbrüche stehen – persönliche wie gesellschaftliche. Ein Roman, der Mut zum Inhalt hat. Der Menschen in den Mittelpunkt stellt, ihre Ängste thematisiert und ehrlich, aber gnädig umgeht mit seinem Protagonist:innen. Mein Fazit: Wem die Themen der Tagesschau allzu oft Sorgenfalten auf die Stirn treiben, ist bei diesem Roman an der richtigen Adresse.
- Gelesen im September 2022
- Ein wunderbarer Zufallsfund in der Dorotheenstädtische Buchhandlung, Turmstraße 5 in Moabit.