‚Ein ganzes Leben‘ von Robert Seethaler

Mehr als ein halbes Leben, dreiviertel wahrscheinlich, liegen zwischen dem eisigen Schneegestöber und dem Moment, als ihn die weiten, fast lachenden Augen des Hörnerhannes‘ anschauen. Egger ist sofort klar, dass dieser Mann, der steifgefroren auf einer Trage liegt, provisorisch aus Skiern zusammengeschustert, der Hörnerhannes ist. Der Ziegenhirte, der einfach abhaute, todkrank wie er war, im schweren Wintersturm. Für Egger ist es der Blick aus dem Fenster in die Vergangenheit. In seine Vergangenheit, noch bevor er Marie kennenlernt. Marie, seine große Liebe. Die Frau, die er heiraten wollte. Den Berg brachte er zum Glühen für Marie, und Marie sagte ja. Wäre nicht eines Nachts – kalt waren die Winter und lang.

Dass er selbst so alt werden würde, hat Egger nicht erwartet. Seine Kindheit, die er überlebte, wie er sagt. Den Krieg im Kaukasus, weil er gut kraxeln konnte und Löcher in den Fels bohren. Diese Fähigkeit hatten nicht viele, wie sich Egger erinnert. Beim Bau der Seilbahn, damals, wie sie eine Schneise in den Wald schlugen den Berg hinauf, Felsen sprengten und Gestein abtrugen, Beton gossen und Pfeiler setzten. Was hat er nicht alles gearbeitet und wofür, denkt Egger in seiner Hütte. Allein, aber zufrieden nach einem ganzen Leben.

So wie Landschaften Menschen formen, prägen die Berge Andreas Egger. Der Protagonist und Ich-Erzähler ist ein einfacher Mann, der als Waisenkind in die Berge kommt, selten Liebe erfährt und sich um das Gerede der Anderen wenig schert. Spricht er dennoch, dann sind die berührend einfachen Worte des späteren Seilbahnarbeiters und Bergführers felsenfest und für die Ewigkeit in den Berg gehauen. Das ganze Gegenteil ist Robert Seethalers Sprache, die poetisch leicht wie auf den Schwingen der Bergadler getragen wird.

Der 155 Seiten umfassende Roman ‚Ein ganzes Leben‘ ist ein Roman über Glück und Unglück, über Zuversicht und Akzeptanz. Ein Roman, der wenig braucht und alles sagt über ein Leben, das Schicksale erdulden und das Weitermachen zur Agenda hat. Mit Hingabe gelingt es Seethaler anhand eines schlichten, aus der Zeit gefallenen Mannes, das 20. Jahrhundert schlaglichtartig in seinen Entwicklungen zu rekapitulieren, die manchmal gut, gelegentlich verheerend und beinahe unumstößlich waren. ‚Ein ganzes Leben‘ ist weit mehr als nur ein Leben. Auf jeden Fall aber ein Roman, den Denis Scheck völlig zurecht als Kunststück lobt – ich auch.

  • Gelesen im Juli 2022
  • Vielen Dank für deine wirklich ausgezeichnete Empfehlung, lieber Joe.

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