Achtung, Theater! – ‚Berlin Kleistpark‘ im Maxim-Gorki-Theater

Die Potsdamer Straße immer geradeaus, nächste Station Kleistpark. Zehn Stationen fuhr Adems Mutter tagtäglich in die Fabrik. Die Namen der Bahnhöfe kannte sie nicht. Zehn Blätter vom großen Baum im Hof gab ihr ihr Mann mit auf die Fahrt und auf jedem Bahnhof solle sie ein Blatt beiseite tun. Bis sie ausstieg und Adem abgab in den Betriebskindergarten. Nie werde ich dir verzeihen, dass du mich weggegeben hast, zitiert Adems Mutter ihren Sohn 30 Jahre später bei ihrem letzten Besuch. Berlin, die Stadt ihrer Hoffnung und der Träume. Einmal auf den Fernsehturm – zum ersten Mal in 30 Jahren.

Adems Freundin Moria ist oft zwei Zacken fixer als er, ebenfalls Juristin und zugleich seine Nachbarin. Scheinbar muss Moria investieren und der Termin beim Notar ist längst anberaumt. Gemeinsame Wohnung, Hochparterre in der Skalitzer Straße – wollen muss man das. Als sich Adems Mutter ankündigt mit allem Tand, Geschenken für Moria, für Adem, Abschiedsgeschenke für sich und die Stadt, bläst der Wind heftig durch die Königskolonaden. Dass es ihr letzter Besuch sein wird, weiß Adem noch nicht und spürt intensiv tiefes Drängen, seine Liebe, seine Wut, seine Leere ihr entgegenzuschleudern in diesem kleinen deutschen Dorf Berlin.

Der zweite Teil in Hakan Savaş Micans Berlin-Trilogie erreicht mit ‚Berlin Kleistpark‘ einen unerwartet fulminanten Höhepunkt. Während am Oranienplatz Berlin eine sonnige Zukunft und Pläne bereithält mit großer Umarmung, ist es nasskalt Grunewald-, Ecke Hauptstraße. Vorbei die Gemütlichkeit bei Gaby – Zerrissenheit und geplatzte Träume sind das Sujet. Drei Handlungsstränge verknüpft Mican cineastisch, musikalisch und theatral berührend, dass Freude und Schmerz hochfrequent oszillieren zwischen Hochzeit, Infarkt und Familienballast, materialisiert in Sammeltassen und Tischservices. Und Adem versteht, dass zwei Frauen eine zu viel ist in seinem Leben.

‚Berlin Kleistpark‘ sind die nie zu oft erzählten Geschichten: Eine Mutter, die für ein besseres Leben ihrer Kinder diese verlor; eine Liebe, die ohne Leiden keine Grundlage besitzt; die Kehrseite der Stadt, dort wo die Unglücklichen, die Gebrochenen und Wiederaufgestandenen ihr lauwarmes Zuhause finden.

Çiğdem Teke als Mutter, Sesede Terziyan als Moria (und bezaubernde Sängerin) sowie Taner Şahintürk als Adem bilden die Fixpunkte und spielen sich frei im Vergleich zum ersten Teil der Berlin-Trilogie. Ihre Verbindung in ‚Berlin Kleistpark‘ ist und bleibt ein Wunsch. Tatsächliche Gemeinsamkeit hingegen ist tiefe Einsamkeit ohne Standort, um Wurzeln zu schlagen. Berlin als Universum der Verlorenheit. Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht? ‚Berlin Kleistpark‘ rührt zu Tränen und lädt ein, zu lachen. Dieser Zug endet hier. Einsteigen bitte.

  • Gesehen am 13. Januar 2022
  • Und hier die Stimme der Nachtkritik.

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