‚Im Wasser sind wir schwerelos‘ von Tomasz Jedrowski

Es ist der letzte Studiensommer, als Ludwik zum Ernteeinsatz aufs Land fährt. Im Bus zunächst durch die große Stadt, durch Warschau, über die Weichsel und weiter durch die endlosen Straßen. Durch Alleen aus immer gleichen Blöcken. Und plötzlich, plötzlich weites Land. Flaches Land mit Kiefern und Birken, die irgendwann Feldern weichen in der polnischen Weite nach Osten.

Vier Wochen Ernteeinsatz. Körbeweise Rote Beeten hatten sie zu ernten und Ludwik, Literaturwissenschaftler, ist die Arbeit nicht gewöhnt. Er sucht Zerstreuung, spaziert zum Fluss unweit des Lagers, mäandert entlang des Ufers und sieht ihn, seine Silhouette im Wasser. Eine kräftige, die sich abzeichnete bei jeder Bewegung. Ludwik erstarrt, kann seinen Blick nicht lassen von ihm, von Janusz, der voller Gewissheit dem Wasser entsteigt. Sie begegnen sich, grüßen einander. Ludwik, außer sich vor Herzklopfen und Scham, ist fasziniert, noch faszinierter als ihre Blicke sich das erste Mal trafen. Sie freunden sich an, bis Janusz fragt, ob sie noch etwas Zeit verbringen wollen. Er will nach Masuren, hat alles dabei, ein Zelt und starke Arme und freue sich über Begleitung. Begleitung durch den Sommer 1980, als die Arbeiter zu streiken begannen.

„Hast du schon mal so jemanden gehabt, einen, den du vergeblich geliebt hast, als du jünger warst“, fragt Ludwik auf Seite 26. Eine rhetorische und gleichermaßen handlungsleitende Frage, die der Ich-Erzähler und Protagonist Ludwik seiner unerfüllten Liebe stellt zu einer Zeit, als er das Land bereits verlassen hatte. Formal hat Tomasz Jedrowski seinen Debütroman als retorspektiven Lebensbericht, als briefliche Schilderung verfasst, als Brief an Janusz der zurückblieb in Warschau 1980. Neben der Haupthandlung – der Liebesgeschichte zwischen Ludwik und seinem Antagonisten Janusz – besticht ‚Im Wasser sind wir schwerelos‘ insbesondere durch den historisch hervorragend herausgearbeiteten Hintergrund. Gesellschaftliche Widersprüche, Misswirtschaft und Dekadenz der Wenigen, Preiserhöhungen, Agonie, Armut und die entsetzliche Perspektivlosigkeit der polnischen Gesellschaft verhandelt in der Beziehung zweier Jungs, die verschiedener nicht sein könnten.

‚Im Wasser sind wir schwerelos‘ ist ein Roman für volle Herzen in stürmischen Zeiten. Es rührt zutiefst, zu lesen, wie Widersprüche bis zum innerlichen Zerreißen ertragen werden. Liebe, Verrat, zerbrochene Illusionen. Wie die kollektive Depression nichts weiter zulässt als die Flucht, die innere und schließlich die äußere Migration. In der wunderbaren Übersetzung von Brigitte Jakobeit ist dieser Roman ein Lesegenuss, der gelegentlich an ‚Die Wohlgesinnten‘ erinnert. Leben und Lieben im Totalitären – und doch, schreibt Janusz zuletzt:

„Ich habe dieses Buch mehr geliebt, als Du wusstest […] Ich wollte es behalten … aber es gehört Dir. Bring es irgendwann zurück, wenn Du kannst. Ich werde da sein. J.“ (S. 219).

Mein Fazit: Ein großes Buch, vielleicht das Beste seit Langem.

  • Gelesen im August 2021
  • Herzlichen Dank, Stefan, für deine großartige Urlaubsempfehlung.

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