Nicht Stadt und nicht Dorf ist dieser Flecken Industriegemeinde. Schkopau ist Dirks Heimatstädtchen hinter den Bunawerken im mitteldeutschen Braunkohlerevier. Dirk, im südhallenser Singsang auch gerne Dörg genannt, liebt sein Konglomerat zwischen Merseburg und Halle, liebt seine Großmutter, liebt die Schule und ganz besonders die DDR. Dirk wird auf Russischolympiaden delegiert, zu Schreibwettbewerben – gewinnen, gewinnen, der Beste sein. Selbstverständlich verpflichtete sich Dirk freiwillig zum Dienst im Wachregiment „Dzierzynski“. Er wollte Eiskunstlaufen, wurde vom Sportunterricht freigestellt und spielte viel den Vielen vor. Denn Dirk wurde klar und klarer, dass im sozialistischen Lauf der Dinge manche Dinge nicht vorgesehen sind – trotz freier Studienplatzwahl, trotz Verpflichtungserklärung.
„Ich wollte ein guter DDR-Bürger werden, und in unserer Republik wurde die Drei-Kind-Ehe propagiert […] Schwul zu sein, war in Schkopau noch populärer als Russischolympiaden und FDJ-Sekretäre“ (S. 146 f.).
Szenenwechsel: West-Berlin. Mittlerweile ohne Mauer, dafür aber ganz viel Traumwelt zwischen Wittenberg- und Nollendorfplatz. Wenn Dirk nicht gerade Welten erfand, tat er Dienst in seiner Residenz, einem Seniorenstift in Grunewald. Wenige Tage nach seiner Ankunft im Notaufnahmelager Marienfelde hatte Dirk sein Vorstellungsgespräch und wurde prompt genommen. Später las er in den Gesprächsnotizen: „Freundlicher Flüchtling, trägt Damenwäsche, recht willig. Grundkenntnisse, Einweisung Bad. Vorerst Station 1“ (S. 10).
Der Protagonist und Namenspatron Herr Wunderwelt ist ein grundsympathischer Typ, dem die Welt zu eng wurde. Viel zu eng und zwar recht schnell. Jörg Rehmann präsentiert in seinen 304-Seiten langen Debütroman zwei Handlungsstränge, die parabelhaft zwischen Lebensmut, Eskapismus und Männern rangieren. Keine schlechte Wahl, denn wie der Klappentext berichtet, hat Rehmann in der Tat ein „Panoptikum einer Kindheit in der DDR und der Schwulenszene im Berlin der Neunzigerjahre“ entworfen. Dabei schreckt der Autor vor schummrigen Kellern nicht zurück: Sex, Aids, Altenpfelge. Er verhandelt komplexe Themen mit süffisanter Leichtigkeit, obgleich nicht immer hinreichend Tiefgang für stürmische See gegeben ist. An dieser Stelle ein Que(e)rverweis, der auch durch Tiefgang überzeugt: „Geboren am 13. August“ von Jens Bisky
„Herr Wunderwelt“ ist ein Roman, der Subkultur und Individuelles tragischkomisch in den Mittelpunkt stellt. Die freundliche Arroganz der 90er Jahre im großen Berlin-Berlin – ohne Mauer und mit ganz viel Luft nach oben. Der Protagonist steht stellvertretend für ein Milieu, dass im bitteren Selbsthass alles verachtet, was nach Osten, was nach DDR riecht, schmeckt, klingt und stinkt, ohne Herabwürdigung der Leben und Lebensleistung der Menschen. „Herr Wunderwelt“ wird zum queeren Sinnbild für Freigeister und freie Geister, die alles wollen, manches verlieren und vieles erhalten. Ein authentischer Roman, der unterhält, der entführt, ab und an mitreißt und hoffentlich noch sehr viel Beachtung findet.
- Gelesen im Februar 2021
- Schöne Empfehlung von Booksaregayasfuck, einem Blog, den wiederum ich ausdrücklich empfehle. Im Übrigen auch herzlichen Dank für Napoleon Seyfarths „Schweine müssen nackt sein“.