‚Lütten Klein‘ von Steffen Mau

Herbst 2019 – Herbst ’89. 30 Jahre Mauerfall – 29 Jahre deutsche Wiedervereinigung. Wiedervereinigung nach Art. 146 Grundgesetz oder Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23? Landnahme auf der einen Seite und Verostung auf der anderen. Dieser Gefühlslagen und Ängste sich zu erwehren, fällt schwer im Herbst 2019. Auch 20, 25, 30 Jahre später. Friedliche Revolution oder doch nur Systemimplosion, Staatskollaps sozusagen? Begriffe, Meinungen, Thesen und Emotionen: Es wird debattiert. Es wird integriert mit der Bitte, sich selbst zu integrieren. Es wird transformiert, so wie modernisierungstheoretisch die neuen Bundesländer längst zwangsläufig Muster-Satelliten-Bundesländer hätten werden sollen. Nun, 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution und dem sozialistischen Dreifachbankrott wird dieser Herbst mein Schwerpunkt Nabelschau Ost. Hätte, müsste, sollte? Ich plädiere für machen. Weitermachen.

‚Lütten Klein‘ von Steffen Mau bildet die Fortsetzung meiner Reihe Nabelschau Ost und ergänzt ganz wunderbar Gregor Sander. Rostock ist beider Autoren Bühne: Sander als Coming-of-Age-Autor und Mau mit kenntnisreicher Sozialforschung, ohne in Vokabular und Duktus kompliziert zu sein. An dieser Stelle soll vordergründig das ‚Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft‘ besprochen werden. Maus Untertitel weist somit in eine Richtung, die Erwartungen weckt und Vorbehalte schürt. Meine Erwartung, eine schlaglichtartige Diagnose für das Heute durch den Vergleich zum Gestern, wird durchaus erfüllt. Breiter, vielschichtiger, umfassend. Andererseits hat ‚Lütten Klein‘ das Potential zum Standardwerk, wenn es darum geht, ex post zu verstehen, was 20, 25 Jahre lang richtig, richtig mies lief, was etwas besser und weshalb eine fette Entschuldigung echt von Nöten ist. Meinetwegen auch beidseitig. Es geht um Respekt, Diskurs auf Augenhöhe, Sich-verstanden-fühlen, um Demokratie- und Menschenbild.

Denn worum es geht, ist Identitätspolitik par exzellenz. Zum Beispiel das Deutschsein, „als der Slogan Wir sind das Volk sukzessive durch den Ruf Wir sind ein Volk ersetzt wurde. Diese gleichsam naturalisierende Gemeinschaftsunterstellung wurde von den wichtigen politischen Akteuren der Bundesrepublik rasch aufgegriffen, um den Wiedervereinigungsprozess emotional zu flankieren“ (S. 148). Blöd nur, dass „[a]ngesichts des Verlusts der Heimat DDR und der gleichzeitig kulturell-politischen Entwertung dieser Identitätsressource es nicht [verwundert], dass sich viele Ostdeutsche bereitwillig auf dieses neue Identitätsangebot einließen“ (S. 149).

Mau beginnt seine 249 Seiten zuzüglich Literatur- und Quellenverzeichnis mit dem Begriff der Fraktur: der Osten als frakturierte Gesellschaft. Mau schreibt von Flexibilität, Robustheit, Beweglichkeit und der Fähigkeit, sich anzupassen. 249 Seiten gegliedert in zwei Teile und thematische Kapitel, die vom Leben in der DDR berichten – einerseits. Andererseits vom Zusammenbruch und Übergang (Kapitel II.1), von Bonner Blaupausen West (II.2), von der Vermarktlichung (II.3) einer bis dahin auf Gleichhalt angelegten Gesellschaft und schließlich der Offenlegung eben jener Bruchzonen (II.7) die empirisch für manche Friktionen sorgen.

Wie aus der Gesellschaft der Werktätigen eine Gesellschaft der Leute wurde (vgl. S. 168), belegt Mau fachlich als Professor für Makrosoziologie und privat als Kind des Neubaugebiets Lütten Klein. Für meinen Geschmack in manchen Passagen zu persönlich, erlaubt sich Mau klare Worte, die nötig sind. ‚Lütten Klein‘ ist ein gut recherchiertes Belegexemplar deutsch-deutscher Verhältnisse, das inhaltlich inspiriert. Erfrischend locker und anekdotenreich geschrieben, klingt oft eine innere Haltung an, die subjektiv ganz sympathisch ist. Nicht nur deshalb empfehle ich ‚Lütten Klein‘ ausdrücklich. Ich empfehle es deshalb, weil 30 Jahre nach dem Herbst ’89 es allerhöchste Eisenbahn ist, ernsthaft das zu verteidigen, was die Linksaußen und Rechtsinnen besudeln und aushöhlen und böse kaputt machen wollen. Der Osten wird auch in dieser Frage Pionier und Vorreiter sein. Wie wäre es also mit einem neuen Aufstiegsversprechen, das trägt und eingelöst wird, liebe Schlagerfreunde und Sozialdemokraten?

  • Gelesen im November 2019
  • Großer Dank gilt meinem lieben Freund aus in der sächsichen Diaspora – Erich – für sein indirektes Geburtstagsgeschenk.
  •  Lesenwert ist zudem Silke Hasselmanns Besprechung bei Andruck vom 28. August 2019, durch die ich auf ‚Lütten Klein‘ aufmerksam wurde.

 

4 Antworten auf „‚Lütten Klein‘ von Steffen Mau

  1. Habe mit Spannung Ihren Bericht gelesen, so dass ich neugierig auf das Buch bin. Freue mich, es selbst zu lesen. Vielen Dank für Ihre Vorarbeit.

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