‚Der Hirtenstern‘ von Alan Hollinghurst

Der Sommer ist bald vorbei, diese trügerische Jahreszeit, in der alles ins Freie strebt, nach draußen, selbst im nasskühlen Belgien. Edward Manners zieht es nach drinnen, hinein in die Kneipen der Stadt, ins Goldene Kalb und die Kassette. In die Kassette auch eher zur frühen als zur späten Stunde. Erst kürzlich fing er als Privatlehrer an zu unterrichten. Sein Schüler Marcel, leider ein sehr unglücklicher Junge. Und Luc, gerissen und stets auf seinen Vorteil bedacht, zudem unglaublich gutaussehend, jedenfalls nach Edwards Meinung, der sich Hals über Kopf in Luc verliebt.

Während Luc für Edward zur Obsession gerät, wird Marcel und insbesondere Marcels Vater Paul zu Edwards gutem Stern, zu seinem Förderer und wirklichem Freund. Paul ist Direktor und Kurator des hiesigen Museums, das die Werke des fiktiven Malers Edgard Orst beherbergt. Orst, Symbolist des frühen 20. Jahrhunderts, wird Edwards intellektueller Ankerpunkt, sein Motor im Treibsand zwischen den Männern, dem Sex, den Kneipen und seiner Dozententätigkeit, den Beziehungen zu Matt und Cherif, der Suche nach Zerstreuung in dunklen Parkanlagen bei Nacht – Brügge sehen und sterben.

„Ich habe dich gar nicht nach Belgien und deinem Job gefragt… ich weiß nicht mal, warum du dahin gegangen bist.» Ich grinste ihn an. «Ach, die übliche Mischung aus Panik und Exzentrik.“ (S. 350)

Ich will ehrlich sein: Hätte nicht das hinreißende Cover meine Aufmerksamkeit geweckt, ich hätte den bereits 1994 erschienenen Roman ‚Der Hirtenstern‘ von Alan Hollinghurst nicht gelesen. 619 Seiten in kleinen Lettern bedrückt – mein Sinn stand nach Zerstreuung und keineswegs nach Arbeit. Und in Arbeit artete die Lektüre wahrlich aus. Hollinghursts mitunter lyrische Beschreibungen der morbiden Stadt Brügge, seine Detailversessenheit, die gleichermaßen als Charakterzug des Protagonisten zu lesen ist, ermüdet streckenweise arg und erlaubt getrost, innere Monologe zur allgemeinen Verfasstheit Edwards zu überfliegen. Der dreiteilige Roman erzählt einerseits von einer unerfüllten Liebe zwischen dem Lehrer und seinem Schüler. Andererseits von der Kunst Edgard Orsts und seinem heterosexuellen Begehren, das der Protagonist und Ich-Erzähler nach und nach zu dechiffrieren erlernt. Als Verbindung im kompakten Mittelteil fungiert der vorwiegende retrospektive Bericht über Edwards Kindheit und Jugend in der englischen Grafschaft Kent. Aufwachsen als schwuler Mann in der englischen Provinz vor 40 Jahren.

Weshalb ‚Der Hirtenstern‘ nun Arbeit bedeutet, liegt an Hollinghursts schöngeistigem und umschweifendem Stil als mäandernde Hermeneutik zwischen Forschendem und dem Objekt. Besondere Stärke hingegen – vor diesem Hintergrund lege ich ‚Der Hirtenstern‘ meiner Lesendenschaft durchaus ans Herz – ist die gefahrlose Schilderung schwulen Lebens im Taumel zwischen Bindung und Bindungsangst, Begehren, Sex in allen Spielarten sowie der absolut unverkrampften Beschreibung aller Dinge zwischen Himmel und Hölle.

Mein Fazit also: Wer schon immer erfahren wollte, weshalb man Brügge sehen und dennoch viele, viele Jahre alt werden kann, wer Interesse zeigt an unverkrampftem (Liebes-)Leben zwischen Männern und wer belgische Kunstgeschichte als liebgewonnenes Hobby bezeichnet, darf sich getrost auf große Literatur freuen. Allen anderen rate ich zu 1,5 Metern Abstand.

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