DU SOLLST DEINE FRESSE HALTEN, schreit Renzow vom Balkon. Sechster Stock, Plattenbau in Knieper West. Fette Arme und kein Gramm Fett, Glatze, Bomberjacke. Attraktivität für die einen, maximales Angstpotenzial für den Rest der Welt. Renzow ist der Typ, vor dem Hendriks Eltern immer gewarnt haben. Nicht nur seine Eltern, auch Lehrer:innen und die Eltern von Hendriks Freund:innen. Und unten, unten vom frisch renovierten Spielplatz, der heute noch zerlegt werden will, wummern Bässe hässliche Texte in die Plattenbauallee, die den Soundtrack bilden für Gewalt, geboren aus Perspektivlosigkeit, Degradierung und dreckigen Drogen.
Zwölf Jahre vorher im Kindergarten Sonnenschein: Wir wollen doch, dass morgen ein schöner Tag wird, oder? Wenn du nicht aufisst, und das weißt du, müssen alle auf dich warten. Kein Nachtisch. Schämst du dich nicht? Schämen sollst du dich. SCHÄMEN! Dass du deinen Eltern immer Ärger bereitest. HÖR AUF ZU HEULEN! KINDER, SCHAUT EUCH DIESE HEULSUSE AN! Frühkindliche Bildung drei Jahre nach der Friedlichen Revolution. Die Mutter zum zweiten Mal arbeitslos, der Vater schon mittags am Kaufhallenkiosk. Schämen sollst du dich!
„Dieses Buch berichtet aus einer Welt, von der man schwer erzählen kann, ohne den Rassismus, den Antisemitismus, die Misogynie, die Homophobie und die Gewalt sprachlich zu reproduzieren, die in ihr zentrale Ordnungsprinzipien waren. Diese Ambivalenz sollte niemand aushalten müssen, der sich nicht bewusst dafür entschieden hat.“ (Vorwort)
Diese Ambivalenz auszuhalten, ist harter Tobak und gleichzeitig ein ausgesprochen lohnenswertes Unterfangen. Weniger des Textes wegen, sondern vielmehr um ein annäherndes Verständnis für meine Jahrgangskohorten und die Teenagerzeit zwischen Stralsund und Zwickau zu entwickeln. Darüber schreibt Hendrik Bolz auf 331 Seiten.
‚Nullerjahre‘ sind die autobiografische Replik eines Mannes, die von seiner und meiner frühen Jugend berichtet. Von seiner und meiner und unserer singulären Generationenerfahrung. Vom Verlust der Bodenhaftung ganzer Jahrgänge, von LAN-Parties, von dumpfen Nächten an der Bushaltestelle, vom ersten Vollrausch und vielen weiteren, von Kifferparties, vom ersten Kuss.
Leben im Rausch, die Schule ein Nebenschauplatz. Eine entpolitisierte Bevölkerung, die wegschaut. Wer den falschen Abzweig nimmt, reiht sich ein in die Reihe von über vier Millionen Arbeitslosen. Hendrik Bolz‘ Alltagsminiaturen sind dessen Verschriftlichung und die seines Songs ‚Plattenbau‘. Im Gegensatz zu Lukas Rietzschels ‚Raumfahrer‘ hat Bolz nicht nur ein Thema, sondern findet die Sprache im Tonfall der Zeit. ‚Nullerjahre‘ ist ‚Sonne und Beton‘ auf ostdeutsch, neudeutsch, gesamtdeutsch. Kein Beitrag zur Weltliteratur, aber eine gute Sozialstudie über die Jugend im noch jungen dritten Jahrtausend, wie ich sie erlebte und bislang nirgends literarisch verhandelt fand. Coming-of-Age mit Tränen und Happyend – vielleicht. Mein Fazit: Prädikat beide Daumen hoch.
PS: Was fehlt, ist der Blick der Elterngeneration. Fortsetzung folgt?
- Gelesen im März 2022
- Aufmerksam geworden durch das Interview von Peter Richter in der Süddeutschen vom 19. Februar 2022.
Eine Antwort auf „‚Nullerjahre‘ von Hendrik Bolz“