‚Raumfahrer‘ von Lukas Rietzschel

Derzeit wird viel Werbung im Radio gesendet, die zu Reisen nach Sachsen ermutigt. Die Frage ist, wieso? Landschaft, Kultur, Industriekultur? Wenn nur die Menschen nicht wären. An Lukas Rietzschels zweitem Roman ‚Raumfahrer‘ wird es nicht liegen. Denn Rietzschel zeichnet ein ödes Bild. Ein Bild verrottender Plattenbauten, verlassen von den alten Bewohner:innen. Von Menschen, die in Plastehäuser direkt gegenüber ziehen und neue Glückseligkeit hinter bunten Gardienen in Pastelltönen zu finden meinen.

Mitglied einer Zwischengesellschaft ist Jan, 32 Jahre, geboren in Räckelwitz und aufgewachsen in Kamenz, wohnhaft zwischen Plattenbau und Plastereihenhaussiedlung. Jan arbeitet als Krankenpfleger im örtlichen Krankenhaus. Kurz vor der Schließung steht das Krankenhaus, was absurd ist. Keine Jugend, sondern nur Menschen, für die keine blühenden Landschaften wuchsen. Wie für Jans Vater beispielsweise, der als Fischer in der Karpfenzucht tätig war. Auch für diese schöne Tradition, das Karpfen fischen, läuft Werbung im Radio. Auch hier die Frage, wieso? Mutti tot. Vati arbeitslos und frustriert. Alles nehmen sie einem, aber nicht meine Geschichte. Damit beginnt das eigentliche Problem an den 286 Seiten ‚Raumfahrer‘.

„Er suchte nach einem Stein, nach irgendetwas, das er werfen konnte. Steinplatten, Pflastersteine, es hätte so viel gegeben. Aber nichts, das er treffen konnte. Keine Fenster, keine Türen. Nur nackte Betonwände. Etwas schmeißen und treffen, aber nicht zerstören können. Das Deprimierendste auf der Welt“ (S. 107f.).

Die zitierte Passage steht beispielhaft für eine Haltung, gegen die der Autor anzuschreiben versucht und doch über jedes seiner eigenen Stöckchen springt. Während die Rahmenhandlung über das Leben meiner Generation in Ostsachsen berichtet, rekurriert die innere Handlung auf Sachsens reiche Kulturgeschichte, hier am Beispiel von Georg Baselitz. Jans Antagonist, ein alter, kranker Mann und Neffe des Künstlers, wird darüber hinaus zum Stasi-Opfer qua Generationenvertrag. Denn sein Vater, Günter Kern, wurde ausspioniert, sein Leben sabotiert, im Grunde ruiniert.

Wer sich an dieser Stelle über meine inhaltliche Offenheit wundert, braucht sich nicht zu grämen. Zwar bindet Rietzschels ‚Raumfahrer‘ am Ende die losen Enden zu einem interessanten zusammen. Auch sprachlich fliegt das Kamenzer Raumschiff auf unterhaltsamem Niveau. Allein der Inhalt wirkt unnötig gezwungen und seltsam konstruiert. Warum alles auf einmal und warum so verkürzt? Der Autor spricht von einem Narrativ, das, seiner Meinung nach, bis heute über die Menschen im Osten vom Westen konstruiert und dominiert wird:

„Deine Eltern sind nach der Wende arbeitslos geworden, waren frustriert und wütend und wurden deswegen rechtsextrem. Kinder, denen man ihr Spielzeug weggenommen hat. Bemitleidenswerte, traurige Gestalten“ (S. 227).

Würde ‚Raumfahrer‘ mehr Perspektiven zeigen, Positives, eine Haltung verkörpern, die nicht im Gestern und Jammern versuppt, hätte es ein lesenswerter, viel besserer Roman werden können. Berührend und gut recherchiert ist er allemal.

  • Gelesen im Oktober 2021
  • Aufmerksam geworden durch die Besprechung im Tagesspiegel vom 23.08.2021.

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