Tom ist mit seinem festen und ersten Freund bereits vor einiger Zeit nach Berlin gezogen. Aus der westdeutschen Provinz direkt nach Nord-Neukölln. Mitten hinein ins süße Leben. Doch Tom hat das Gefühl, irgendetwas zu verpassen. Verpassen will er nichts in seinen 20ern und beschließt, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Er zieht los, präpariert sein Equipment und findet sich in der Olfe wieder – im Möbel Olfe am Kottbusser Tor und die große Show beginnt.
Gleiche Zeit, gleicher Ort, drei Uhr morgens. Viktor sitzt beim dritten Getränk in netter Begleitung. Sie plaudern über dies und das. Über den Abend, der lang werden soll. Viktor, erfolgreicher Schauspieler und gerade geoutet, berichtet von seiner jüngeren Vergangenheit. Von ihm, von Berlin, von Jungs.
„Alles was er sah, egal, wo er war, waren Männer. Berlin schien ihm wie ein Ort, der nur dazu da war, schöne Männer anzuziehen, die er ausziehen wollte“ (S. 25).
Die Jagd war für diesen Sommer fast vorbei, doch Viktor hatte noch eine Beute auf seiner Liste. Heute würde der Abend sein. Er wusste es. Und Erik wusste es. Im Club, in dem Club, dessen Gravitation heute noch stärker schien als ohnehin, würden sie sich finden. Würden tanzen und ordentlich nachlegen, bis die Sonne zum zweiten Mal durch die Fenster blitzte. Davon schreibt Kevin Junk in seinem Episodenroman ‚Fromme Wölfe‘.
Wölfe auf der Jagd im schnellen Rausch. Ihr Rausch, die Drogen, der Rave – ihr Eskapismus ist Junks Manifest an eine Generation in der großen Stadt Berlin vor der Pandemie. Das Wochenende der fünf Protagonist:innen auf ihrer Reise durch die Nächte der Großstadt. Junk trifft den Ton dieser Leute und ihrer Zeit. Dieser Generation, nur wenige Jahre jünger als ich. Die Hipsteria aus Nord-Neukölln, aus Kreuzberg 36.
‚Fromme Wölfe‘ ist ein bemerkenswert authentischer Zyklus der queeren Partyszene Berlins. Schnell erzählt, nimmt Junk kein Blatt vor den Mund. Unbarmherzig ehrlich ziehen seine Wölfe um die Häuser. Und sie ziehen das Zeug, wovor ihre Eltern immer warnten. Junks Roman ist die Anleitung für lange Nächte. Eine Ode an das Berlin, wofür Tausende in die Stadt kamen.
„Entweder man war dabei oder nicht. Es gab keine Pornografie, kein Erzählen, keinen Film, keinen Roman, der diese Stimmung greifen konnte. Jede Erzählung musste scheitern. Heute gab es nur die Erotik des Ravens, einen Tanz, den man mittanzen musste, nicht auf YouTube nachschauen“ (S. 154).
Mein Fazit: Auch wenn die Story nicht umfänglich auf 285 Seiten trägt, ist ‚Fromme Wölfe‘ ein Zeitdokument, das ich empfehle. Ein Zeitdokument für die Kids zehn Jahre jünger als Viktor und Tom und Erik, die vor Zielstrebigkeit ihre Jugend verplempern. Ein Zeitdokument für Eltern, die wissen wollen, warum Julius Maximilian nicht in Heidelberg studieren möchte. Und für all die Schlagerfreund:innen, die das Berghain nur als Ausstellungslocation kennen.
- Gelesen im Juli 2021
- Ein großartiger Fund auf Books are gay as fuck. Einem Blog, der ebenso empfehlenswert ist.