‚Streulicht‘ von Deniz Ohde

Als das Mädchen mit dem seltsamen Namen an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt, beginnt ihre Erzählung. Eine lineare Erzählung über den Ort in dem sie heranwuchs, der sie prägte, in dem sie Abitur ablegen durfte. Als erste aus ihrer Familie und das in einem Ort, wo die Luft schwerer ist, säuerlich, dicker. Das Leben habe eine andere Konsistenz, berichtet das Mädchen mit dem seltsamen Namen, die Ich-Erzählerin und Protagonistin, als sie im Auto das Ortsschild passiert, hinüber sieht zum Chemiepark auf der anderen Flussseite, zerlaufen zwischen Autobahn und in die Jahre gekommener Einfamilienhaussiedlungen ohne Seele.

Von alledem schreibt Deniz Ohde auf den ersten zehn von insgesamt 285 Seiten. Sie präsentiert einen düsteren, surrealen Schauplatz für ihren Roman ‚Streulicht‘. Einem Roman, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020 stand. Ein wunderbarer Achtungserfolg für einen Debütroman, der die postmigrantische Aufstiegsbiografie eines Mädchens verhandelt. An dieser Stelle drängt sich automatisch die Ähnlichkeit zu ‚Herkunft‚ von Saša Stanišić auf.

Die Protagonistin hat Glück. Sie hat Freunde. Zusammen mit Pikka und Sophia erkunden sie die Welt. Ihre Welt zwischen den Schloten der Müllverbrennungsanlage, der Hafeneinfahrt und den Durchgangsstraßen hinter den Kleingärten und der Kläranlage. Sie sind Kinder. Ihre Welt ist begrenzt, bisweilen sehr und dort, in diesem Rahmen, dort sind sie zu Hause, fühlen sich zu Hause. Kennen wenig anders. Spielen, lachen, lernen, begehen Fehler, werden klüger und stellen fest, dass tatsächlich die feinen Unterschiede ganz leise grell zum Himmel schreien. Wie das permanente Surren und Schnurren im Chemiepark gegenüber. Dahinter beginnt die Welt, die richtige, die weite.

Deniz Ohde präsentiert Pierre Bourdieu literarisch in einem greifbar bedrückenden Gesellschaftsroman. Ihre Sprache kindlich linear – ihre Gedanken kritisch adoleszent. Leider kam ich nicht über Seite 84 hinaus. Ich mag der Autorin Unrecht tun, aber sowohl Sprache, Inhalt und Form schaffen es nicht, mich abzuholen. Nach zehn Seiten passiert nichts Neues. Aber wieso? Erzählte Alltagsbrocken wirken distanziert, kühl, bisweilen eklektisch. Oft schon, viel zu oft gehört, gelesen, gesehen, erlebt. Vielleicht verfing ‚Streulicht‘ auch aus meiner ganz eigenen Erfahrung nicht. Vielleicht aber auch, weil der Roman einen Leistungsanspruch im Subtext trägt, der empirisch evident ist und dadurch grotesk.

Mit großer Überzeugung für die Emanzipation, für Bildung, für die Überwindung zynischer Verhältnisse bin ich der Auffassung, die Welt ist nicht weiß und dunkelgrau, fast schwarz, sondern bunt und komplex. Verwahrlosung muss nicht zwangsläufig in verbauten Reihenhäusern einer Industrievorstadt stattfinden. Wieso also immer dieselben Klischees bemühen? Weil sie einfach sind und damit wahr? Ohdes plumpe Dichotomie langweilt. Insbesondere in diesem Punkt hätte ich mir Raffinesse, zumindest aber Beweglichkeit gewünscht. Ob ‚Streulicht‘ zum Ende hin die Vorschusslorbeeren der Shortlist verdient, müssen Sie entscheiden. Ich freu mich auf Ihre Kommentare!

  • Gelesen im Oktober 2020
  • Eine Empfehlung meiner Buchhändlerin in der Buchkantine, Dortmunder Straße 1 in Moabit. Ich freu mich auf unsere Diskussion.

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