‚Herkunft‘ von Saša Stanišić

„Fragt mich jemand, was mir Heimat bedeutet, erzähle ich vom freundlichen Grüßen eines Nachbarn über die Straße hinweg. Ich erzähle, wie Dr. Heimat meinen Großvater und mich zum Angeln an den Neckar eingeladen hat. Wie er Angelscheine für uns besorgt hat. Wie er Brote schmierte und sowohl Saft als auch Bier dabeihatte, weil man ja nie weiß. Wie wir Stunden nebeneinander am Neckar standen, ein Zahnarzt aus Schlesien, ein alter Bremser aus Jugoslawien und ein fünfzehnjähriger Schüler ohne Karies, und wie wir alle drei ein paar Stunden lang vor nichts auf der Welt Angst hatten“ (S. 172f.).

Es ist die Geschichte eines Jungen, der nicht laut, nicht leis, aber sofort sympathisch ist. Einem Jungen, der früh aus seinem fröhlichen Kinderleben gerissen wird. Und in ein neues katapultiert. Ein Leben, in dem plötzlich nicht mehr gilt, was früher richtig war und wahr. Bei uns gelten Regeln, schallt es ihm entgegen. Als ob woanders keine Regeln gelten. Es ist die Geschichte über das Leben von Saša. Über die integrierende Kraft der Freundschaft. Über Mut und Zuversicht. Über Familie und was Familie auch sein kann. Von Fremdzuschreibung und Selbstwahrnehmung. Vom Selbstwerden und sich selbst finden. Vom Erwachsenwerden eines Jungen aus Jugoslawien, der früher seine Heimat verlässt, als ihm wahrscheinlich lieb ist. Er muss. Sie hat aufgehört zu existieren.

„‚Herkunft‘ ist ein Buch über den ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt.“ Dieser Klappentext fasst als Inhaltsangabe treffend zusammen, was ‚Herkunft‘ auszeichnet. Literatur gewordene europäische Zeitgeschichte. Literatur gewordene Kontingenz. Ein Leben zur Anekdotensammlung verdichtet. Zu einem Leben unter vielen. Einem Leben unter den Deinen. Denn die Deinen lassen dich nicht los – lassen Saša Stanišić nicht los. Und ‚Herkunft‘ meint noch viel mehr. Stanišić fasst das Schlechteste der Menschen in Worte – den Krieg. Gekleidet in Liebe zum Leben und der Liebe zu den Menschen. Der Menschen, die sein Leben prägen, im Guten wie im Schlechten und darüber hinaus. Auf jeder der 350 Seiten spüren wir Herzschlag. Ganz stark! Wie es pocht das Herz, immer weiter und weiter. Den kräftigen Herzschlag eines Mannes, für den Herkunft erst zum Thema wird, als der Herzschlag seiner Familie leiser wurde. Als die Erinnerung der Großmutter verschwimmt. Als er zum ersten Mal den Ort erblickt, an dem seine Wurzeln liegen. Seine Herkunft, glaubt man Großvater an den Gräbern der Seinen, die seinen Namen tragen.

‚Herkunft’ sind Geschichten: vom Ankommen, vom Weiterziehen, vom Wurzeln schlagen und Loslassen. Stanišić schreibt von sich und verbindet das Autobiografische mit Leichtigkeit und Fiktion. Nicht nur deshalb sprüht ‚Herkunft‘ vor Glück, vor Heiterkeit. Selbst im Dunkeln hat Stanišić mit stetem Lächeln geschrieben. Geschrieben gegen die Festung Europa und für den individuellen, den feinen Blick. Wohl ist sich der Autor bewusst, dass sein Leben eines der sehr glücklichen ist, weshalb sein Beispiel trägt. Es trägt Menschlichkeit und Liebe in sich. Zu den Seinen und den Anderen. Gewiss auch zu Ihnen, weshalb ‚Herkunft‘ von Saša Stanišić Ihr Leben ein ganzes Stück reicher macht!

  • Gelesen im April 2019 und nachgefragt bei Denis Scheck.
  • Aufmerksam geworden im Zuge der Leipziger Buchpreisverleihung und, schwups, zufällig lag es vor mir in der Buchkantine, Dortmunder Straße 1 in Moabit.

3 Antworten auf „‚Herkunft‘ von Saša Stanišić

  1. Besonders schön auch der verschlungene Schluss, der inhaltlich an die Nerd-Seiten des Ich-Erzählers anknüpft und formal das Bewusstseins-Zerbröseln der Großmutter aufgreift. Wirklich eines der tollsten Bücher der 10er-Jahre.

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