Achtung, Theater! – ‚Streulicht‘ am Maxim-Gorki-Theater

Ein Gastbeitrag von Erich Stadler

„Was ist Identität, was ist deine Identität?“ Vor diese Frage sieht sich die Protagonistin zu Beginn ihrer Gymnasialzeit gestellt. Zweiter Bildungswegs. Lange überlegt sie und schaut währenddessen am Berliner Publikum vorbei.

An diesem Punkt hat das Arbeiterkind, deren Mutter in der Türkei aufwuchs, viel erlebt: Ausgrenzung, Gewalt, rassistische Anfeindungen, die Ausfälle ihres alkoholkranken Vaters und die kampflosen Kapitulationen ihrer stoischen Mutter. Vor alledem sieht sie den Erfolg ihrer Mitschüler:innen ohne seltsam fremd klingenden Namen in einem System, das sie – wenn überhaupt – als bereits vorgezeichnetes Schicksal begreift. Im Kontrast ihrer täglichen Erfahrungen erleben die Zuschauer:innen den Wandel einer jungen Frau, die sich trotz aller Widrigkeiten gegen diese Vorzeichnungen stemmt und eine andere Zukunft einzulösen versucht. Eine Zukunft, die sich die Generation ihrer Mutter in der neuen Heimat still erträumte, nie erhielt und wonach sie zeitlebens auch nicht mehr fragen würde. Eine junge Frau, die Unterschiede zwischen ihr und den Schulfreund:innen Sophia und Pikka täglich sieht und erst später, ein Studium später, die dafür blinden Lehrer:innen verantwortlich machen kann. Eine junge Frau, die aber eben auch jene Unterschiede als Chance der Abgrenzung und Flucht sieht und – so viel sei an dieser Stelle verraten – diese letztlich auch um den Preis der Entfremdung verwirklicht.

Nurkan Erpulat gelingt etwas Bemerkenswertes. Die Adaption des 2020 für den Deutschen Buchpreis nominierten Romans zieht den Zuschauer durch ihre Authentizität und Dynamik in eine Konfliktsphäre, die man vermeintlich oft genug gesehen, aber eben nicht zwangsläufig verinnerlicht haben muss. Selbst verständigen Zuschauer:innen wird klar, dass die persönlichen Dimensionen des alltäglichen strukturellen Rassismus eine schier unfassbare Tragweite haben. Die plastische Darstellung dieses Mädchens verknüpft die Integrationsplattitüden der Neunziger- und Zweitausenderjahre auf lebhafte Weise mit einem oft gehörten, ungehörten Einzelschicksal, dem seine Vorbestimmung weitestgehend oktroyiert wird.

Verantwortlich dafür zeichnen insbesondere Aysima Ergün, Çiğdem Teke und Wojo van Brouwer, die im schnellen Wechsel von Sprach- und Körperakrobatik eine sehr gelungene Inszenierung des Prosatextes verwirklichen. ‚Streulicht‚ am Maxim-Gorki-Theater Berlin sind überraschend stille und gleichermaßenen gewaltige 100 Minuten. Eine schnelllebige Inszenierung, die mit einem pragmatisch funktionalen Bühnenbild auskommt, das die Protagonistin und ihre Geschichte gleich dreifach in den Vordergrund rückt. ‚Streulicht‘ erzählt authentisch und fokussiert, was die Vorlage nicht vermag.

  • Gesehen am 23. September 2021
  • Und hier die Stimme der Nachtkritik.

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