Achtung, Theater! – ‚Dschinns‘ am Gorki

Die Familie versammelt in Hüseyins Ruhesitz. Bewohnt hat er ihn nie. Doch sein Traum war er immer. Sein großer Traum nach den vielen Jahren in diesem herzlosen, kalten Land. Zum Vorruhestand, der sich nie früh anfühlte, wollte Hüseyin zurück in die Türkei. Eine eigene Wohnung in Istanbul, Eigentümer sein. Mit Emine den Lebensabend über den Dächern dieser riesigen Stadt verbringen, in einem warmherzigen Land, das Hüseyin nicht wiedererkennen würde. Nun sind sie alle zur Beisetzung gekommen, fast pünktlich sogar. Was für eine Aufregung mit den Flügen. Emine, die Kinder, Verwandte, die niemand eingeladen hat. Hüseyins Familie mit all ihren Geschichten, die Fatma Aydemir in ‚Dschinns‘ preisverdächtig zu Papier brachte.

Am Berliner Gorki feierte nun am 17. Februar die gleichnamige Theateradaption von Nurkan Erpulat Premiere. Die komplexen mehrgliedrigen Erzählstränge der Romanvorlage in einem Stück zu verdichten, ist keineswegs trivial. Es wäre zu hart formuliert, Erpulat verhebt sich an Aydemirs postmigrantischem Familienroman. Durchweg gelungen ist seine Arbeit jedoch keineswegs.

Besonders hervorzuheben sind die außerordentlich starken 15 Minuten zu Beginn. Die Kinder des verstorbenen Vaters erzählen empathisch, gedankenvergessen, geradezu hingebungsvoll über Hüseyins Leben. Von seinen Bürden, seinem Ethos als Arbeiter und als Vater, der zugleich Last war. Ebenso bemerkenswert ist die Auseinandersetzung als schließender Höhepunkt zwischen der Mutter Emine, gespielt von Melek Erenay, und der ältesten Tochter Sevda, die Çiğdem Teke brillant verkörpert. Dazwischen überdehnt Erpulat in der dramaturgischen Bearbeitung von Johannes Kirsten unnötig und verkürzt wiederum für die Gesamtschau sehr lohnenswerte Passagen. Insbesondere das Streichen sehr bewegender Momente der Vorlage wirken holprig und erwecken den Eindruck, alles erzählen zu wollen, ohne das Wie gut zu beantworten. Slapstick jedenfalls ist ausnahmslos die schlechteste aller Antworten. Der konsequente Fokus auf wenige zentrale Erzählstränge hätte der Arbeit durchweg gut getan.

Auch wenn man nicht immer erschließt, weshalb Gitti Scherers Bühnenbild – eine stilisierte Wand der Istanbuler Wohnung – viel zu oft zur Rampe und zurück auf die Hinterbühne fährt, verstärkt es die retrospektiven Episoden ebenso schlüssig, wie die musikalischen Interpretationen von Anthony Hüseyin. Darüber hinaus ist das Ensemble zwar ungleich stark besetzt. Ein Ungleichgewicht aber wird durch das gleichberechtigte Spiel aller Darsteller:innen fast symbiotisch vermieden.

Dschinns’ ist eine 2:20-stündige Arbeit ohne Pause, die zu lang ist für meinen Geschmack. Die zu viel will und stellenweise zu sprunghaft mit Lohnenswertem umgeht. Nichtsdestotrotz ist die Theateradaption am Gorki ein sehenswerter erster Aufschlag in der Reihe hoffentlich noch vieler weiterer, an dem sie sich messen lassen müssen.

  • Gesehen am 18. Februar 2023
  • Und hier die Stimme der Nachtkritik.

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