Lasst uns feiern, rufen die Gäste der besseren Gesellschaft. Alle beisammen sind sie, die feinen Damen und Herren und wer sich noch zugehörig fühlt. In einem besonders schönen Palais [unten davon mehr] steigt die Party und die Bediensteten – die Bediensteten tun keinen Dienst. Unerhört, aber die Korken knallen und Feste soll man bekanntlich feiern, wie sie fallen. Zu fortgeschrittener Stunde entschließt man sich, zu bleiben und vor Ort zu nächtigen. Besser ist das und der Espresso am Morgen ist vorzüglich. Noch einen Espresso?
Aufbrechen, gehen, es ist an der Zeit. Doch niemand geht. Alle bleiben. Bleiben sitzen auf bequemen Stühlen. Nehmen einen weiteren Kaffee. Sinnieren über den Abend. Erinnern, dass sie gehen wollen. Aber nicht können. Niemand verlässt das Haus. Keiner entschließt sich, bringt Kraft und Mut auf. Sie können nicht. Aber weshalb? Wozu das Spektakel, das längst keines mehr ist? Im Ausnahmezustand sind sie, aber wozu?
Wozu überhaupt diese Inszenierung am Volkstheater Wien? Wozu dieser Aufwand, die ganze Mühe? Sebastian Baumgartens Arbeit ‚Der Würgeengel – El Ángel Exterminador‘ ist Luis Buñuels gleichnamiger Film aus dem Jahre 1962 – frei interpretiert. So irrational das Original, so uneingelöst bleibt der hohe Anspruch von Baumgartens Premiere am Volkstheater. Abschottung, Beschränkung, politische Wirkmächtigkeit in einer aufgeklärten Gesellschaft im Ausnahmezustand – davon ist in dem 100-minütigen Stück leider sehr, sehr wenig zu sehen.
Besonderes Highlight ist zweifelsohne das psychodelisch virtuose Bühnenbild von Tobias Rehberger, dessen raumgreifende Installationen weltweit gefeiert wurden und mehrfach prämiert. Genannt sei sein 2009 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnetes Café auf der Biennale von Venedig oder die illuminierte Brücke Slinky Springs to Fame 2010 am Emscherkunstweg in Oberhausen. Aber sich deshalb zermürbender Erschlaffung hingeben, obwohl das Gegenteil im Programmheft steht?
Mit Rehbergers Bühneninstallation hat Sebastian Baumgarten einen künstlerischen Coup gelandet, der rotierend Räume öffnet, dessen dramaturgisches Potenzial leider ebenfalls nicht ausgeschöpft wird. Auch das Ensemble gibt viel. Besonders hervor sticht niemand. Mit gutem Willen kann man die enorme Langatmigkeit als bewusste Zumutung begreifen, die auf der Bühne nach Kräften präsentiert wird. Zumutung im Sinne einer gänzlich grotesken Situation, die Ausweg und Flucht ausschließt, ohne die Gründe zu nennen oder zu zeigen. Vor diesem Hintergrund ist ‚Der Würgeengel‘ am Wiener Volkstheater ein Stück, das selbst Lieberhaber:innen viel abverlangt. Gleichzeitig darf Theater getrost auch Zumutung sein – muss es sogar, selbst eine ermüdende. Denn wenn es das ist, was Baumgarten dem Publikum entgegenhält: Ein Leben ohne Freiheit, ohne Theater, ohne Kunst, ohne Kultur, leibhaftig, greifbar, hörbar, fühlbar mit allen Sinnen, ist die schlechteste aller Optionen.
- Gesehen am 11. Februar 2023
- Und hier die Stimme der Nachtkritik.