59 Jahre bist du, Hüseyin, 59. Wenige Tage noch, und du wärst 60 geworden. Dein Traum zum Greifen nahe. Eine Wohnung, deine eigene Wohnung in Istanbul. Gekauft hast du sie. Bezahlt vom Geld der jahrelangen Arbeit in Deutschland, diesem kalten, herzlosen Land. Du hast sie neu eingerichtet. Schön gemacht hast du es für euch, für Emine, deine Frau. Und nun? Nun bist du tot, Hüseyin. Herzinfarkt mit 59 Jahren. Emine sollte nachkommen. Euer Lebensabend in der Türkei, in Istanbul. Dieser Stadt mit zehn Millionen Seelen und so reich an Leben, das du euch, Hüseyin, euch, deiner Familie, nie gegönnt hast.
Ümit, dein Jüngster, dieser zarte, verschlossene Junge, der anders ist als du und anders als die meisten in seiner Klasse. Sevda, deine älteste Tochter. Gelitten hat sie unter dir. Viel mehr noch unter Emine, die in ihr stets eine Zumutung sieht. Nur Anspruch, nur Vorwurf. Dabei habt ihr sie Dankbarkeit gelehrt und Respekt. Hakan, der starke Mann nach dir. Hat er dich wirklich immer und immer wieder enttäuscht oder warst du es, dessen Ansprüche unerreichbar waren? Warst du nicht der Vater, der nur straft durch Schweigen und Abwesenheit. Und Peri, die Kluge, die im Studium ihren Ausweg sieht aus deiner Enge, eurer Enge in dieser hässlichen Kleinstadt. Reißaus nimmt sie auf ihrer Suche – bloß weg. Wohin? Und Emine? Hast du ihr wirklich das gegeben, was sie wollte und brauchte? Nicht alles genommen? Das Wichtigste überhaupt?
„Weil man nur dort zuhause war, wo man jemanden hatte, der einen verstand.“ (S. 275)
Sprachlosigkeit als Überschrift und zugleich Sinnbild im inneren und äußeren Kampf ist roter Faden in Fatma Aydemirs Roman ‚Dschinns‘. Aydemir erzählt auf 368 Seiten die Geschichte einer türkischen Familie, die das kurdische Bergdorf verlässt, um ihr kleines Glück in Deutschland zu suchen. Hüseyin als duldsamer Arbeiter. Emine als innerlich zerrissene, oft strafende Mutter, die ihr Leben, ihr Bild von Familie, gegen alle Rebellion der Kinder mit schwindenden Kräften verteidigt.
In sechs Kapiteln präsentiert die Autorin die Beziehungen und Rollenmuster aller Familienmitglieder in abschnittsweise wechselnder Erzählperspektive. Mit großer Empathie, vielen Zwischentönen und wacher historischer Kontextualisierung rangieren Duktus und Stil in einem formal gut ausgearbeiteten Geflecht von Erzählsträngen, deren Anfänge und Enden Fatma Aydemir Stück für Stück zusammenfügt auf Ihrer Recherche nach den Geistern der Familie Yilmaz.
„Und nun, da Hüseyin plötzlich weg ist, sitzen sie hier, die, die er zurückgelassen hat mit seinem einzigen Vermächtnis. Dem Schweigen.“ (S. 281)
‚Dschinns‘ ist ein energetischer, mitreißender Roman, der getragen wird vom unbedingten Willen zur individuellen Freiheit. Ein Roman, der Patriachat und Familie auseinandersetzt und multiperspektivisch versucht, Fragen zu stellen, ohne gleichzeitig unnötig kluge Antworten zu präsentieren. Ein Roman, der fordert und einfordert. Der im postmigrantischen Literaturkanon den vielen Leben einer oft stummen Elterngeneration Sprache verleiht und völlig zurecht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022 steht.
- Gelesen im September 2022
- Ein großes Dankeschön an die Buchkantine für diese ausgezeichnete Empfehlung.