‚Frei‘ von Lea Ypi

Lea wächst in einem kleinen Land auf. Im Westen das Meer, im Osten die Berge. Lea liebt ihr kleines Land, so wie Onkel Enver und ihre Familie mit ihrer ambivalenten Geschichte. Oder anders formuliert: Einer Biografie, die ihren Weg vorbestimmt. Welchen Weg, weiß Lea oft nicht, denn ihre Eltern, aber auch Oma Nini, sprechen in Metaphern, die nur schwer zu verstehen sind. Auch spricht Nini liebend gerne Französisch, was Lea befremdet und sie oft beschämt. In der Schule gilt sie als bourgeois. Sie steht abseits, wird gehänselt, obwohl Lea fleißig lernt und eine der besten ist unter ihnen. Sie tut das – ja wofür? Für ihre Eltern, für Nini, für Onkel Enver. Denn Lea weiß:

„Eines Tages würde die Partei vielleicht mächtig genug sein, um unsere Feinde zu besiegen und uns allen eine Auslandsreise zu finanzieren. So oder so lebten wir bereits am bestmöglichen Ort […] Wir wussten, wir hatten nicht alles, aber wir hatten genug; wir hatten alle das Gleiche und vor allem das, worauf es ankam: wahre Freiheit“ (S. 102).

Eine Kindheit in Albanien am Vorabend der Zeitenwende. Aufgewachsen in einer Familie mit falscher Biografie, beschriebt die Autorin Lea Ypi ihre Kindheit zwischen staatlicher Erziehungsdoktrin und privater Gegenrealität. Mit kindlich naivem, vielleicht unschuldigem Blick erzählt Ypi von ihrer Neugier auf das Leben. Von Fragen, auf die keine Antworten folgen. Von Universitätsabschlüssen, die keine sind. Von Verwandten, die unerwünschte Besucher:innen sind – wegen der Biografie.

Lea Ypis autobiografischer Erzählband ‚Frei‘ handelt auf 329 Seiten vom post-stalinistischen Albanien und einer Familiengeschichte, die auf jeder einzelnen Seite den Stempel der Geschichte ihres Landes trägt. Mit liebevollem Blick für die kleinen Dinge, die feinen Unterschiede, gibt die Autorin durch ihre sensible Auswahl privater Episoden vieles Preis über sich, familiäre Verwicklungen und die Metamorphose ihrer kleinen Nation.

Sprachlich rangiert Ypi gekonnt im Duktus der jeweils Erzählenden. Durch wechselnde Perspektiven erschließt sich peu à peu‘ eine Gesamtschau insbesondere über die jüngste Geschichte Albaniens, die den Wenigsten geläufig sein dürfte. Nichtsdestotrotz fällt mein Resümee ambivalent aus. Lea Ypis Band ‚Frei’ ist zweifelsohne lesenswerte Lektüre – inhaltlich anspruchsvoll und in der Übersetzung von Eva Bonné sprachlich eine Freude. Dennoch ist der Funke bis zuletzt nicht übergesprungen. Wegen ermüdender Chiffren über die Realität und das Sagbare. Aber auch wegen der kindlichen Übernahme des politisch Gewollten, was passagenweise ins Unglaubwürdige driftet. Wie dem auch sei, mit positivem Fazit bin ich gespannt auf das Urteil meiner Leser:innenschaft.

  • Gelesen im September 2022
  • Mein Dank gilt diesmal meiner Kollegin Stephanie für die Empfehlung.

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