Für die Einen der Weg in den Feierabend, für drei Frauen ist es der erste Tag ihrer Schicht. Zwei Wochen Nachtschicht in einer Fleischfabrik. Ihre Aufgabe: Putzen. Die Reste des Tages in den Ausguss kippen. Fegen. Wischen. Kehrwoche im Akkord, denn hinten ihnen steht Vorarbeiter Jan (Damir Avdic), der mit Druckbetankung Beine macht. Im spartanischen Lagerraum zwischen Regalen, Transportboxen und verlorenen Illusionen steht sich das Prekariat noch unbekannt gegenüber. Sich fremde und entfremdete Individuen, die sich finden für zwei Wochen. Nähern sich an im Aufstellungsspiel zwischen Agonie, Wut und Hass im Neonlicht, deren Stereotype hervorragend funktionieren: Sonja (Jule Böwe) als Frau Ende 40, die wenig hat, Kämpfe scheut, aber selbst in größer Not Ordnung hält. Ava (Hêvîn Tekin) als Frau Mitte 20, die trotz Krankheit und Arbeitseinschränkung vom Jobcenter verpflichtet wurde. Becky (Julia Schubert) als junge Mutter mit schwachem Background, die kämpft und rebelliert gegen gläserne Decken und eigentlich nur in den Arm genommen werden möchte. Und zwischen ihnen noch Michael (Kay Bartholomäus Schulze) als tröstender Moderator, der alle Erwartung längst fahren ließ, aber weiß, wie der Hase läuft. Was sie verbindet? Zwei Wochen Nachtschicht am Ausguss einer Fleischfabrik.
‚Beyond Caring‘ ist damit weniger Inszenierung als Realität. Menschen am unteren Ende der Fahnenstange, leer an Inspiration, Freude, Wünschen, Hoffnung. Die Dialoge auf Allgemeinplätze reduziert und ins Groteske verformt, flankiert und auf Tempo gebracht durch Jans Führungskräfteaphorismen:
„Teammeeting, kommt alle her. Schnell, nur eine Minute. Teammeeting! Ach, Sonja, bleib nochmal kurz. Ich will dich schnell evaluieren.“
2014 in London uraufgeführt, ist ‚Beyond Caring‘ Alexander Zeldins erste Arbeit an der Schaubühne am Lehniner Platz. Erzählzeit und erzählte Zeit scheinen kongruent durch ihre Langsamkeit. Eine Zähigkeit, die Kräfte raubt auf der Bühne und im Publikum. Das stark und ausgewogen spielende Ensemble verbündet sich, findet zueinander in Zeldins Aufstellung und wird selbst zum Realitätskometen, der einschlägt und wieder einschlägt und nackte Bilder der Fleischbeschau hinterlässt. 100 Minuten harter, harter Tobak, der zur Selbstpositionierung zwingt. Wo stehe ich und warum nicht dort? Zum Glück!
‚Beyond Caring‘ ist Fleischbeschau am Schlachthausfließband im doppelten Wortsinn. Verstörend langsam taumeln verletzte Seelen in opaker Grausamkeit. Halbwegs empathische und reflektierte Menschen werden mit Zeldins Arbeit keinen guten Abend haben. Und genau deshalb ist ‚Beyond Caring‘ unverhofft gut und unbedingt sehenswert. Kein Weichspülmodus, sondern Theater im besten Sinne als Spiegel und Brennglas. Bravo, du Realitätskomet.
- Gesehen am 5. Mai 2022
- Und hier die Stimme der Nachtkritik.