‚Treue Seelen‘ von Till Raether

Das Bundesamt für Materialforschung und -prüfung, kurz BAM, hat seinen Westberliner Standort nicht an prominentester Stelle. Irgendwo in Zehlendorf, Teltower Damm, Ecke – wie heißt die Straße? Egal. Zu lange her. Achim fällt es schwer, sich zu erinnern, als er im Café Mehnert Sonja Dobrowolski zufällig trifft. Eine ehemalige Kollegin aus dem BAM, die Sonja. Zu der Zeit, als Achim nach Westberlin zog, war es schon schwierig mit Barbara und ihm, aber das weiß er erst nach dem gemeinsamen Umzug nach Zehlendorf – Seelendorf. Schöne Siedlung, schöne Wohnung, in die sie ziehen. Alte SS-Siedlung für Offiziere, die heute keiner mehr kennt. Meint jedenfalls Frau Selchow, vermutlich Erstbezug. Aber schöne Wohnung, immerhin.

Wenn Achim am Küchenfenster steht und in den Innenhof schaut, blickt er direkt in die Küche von Familie Sebulke. Schöne Küche, Mutter, Vater, zwei Kinder. Sehr angenehm, Achim mein Name. Marion. Freut mich ebenfalls. Bei den Amis arbeitetest du? Wir haben einen ähnlichen Weg. Darf ich dich begleiten? Ein Stück nur. Weißt du, es war schön gestern Abend. Mit dir auf dem Dachboden und unter der Straßenlaterne. Ein schöner Kuss. Ach, ihr seid mir treue Seelen. Marion aus Ostberlin, rübergemacht mit der S-Bahn im Sommer 61. Achim aus Bonn-Bad Godesberg, übergesiedelt mit Barbara und dem Wunsch, dieses Bonn, dieses altbacken Provinzielle hinter sich zu lassen im Frühjahr 86, als in Tschernobyl der Reaktor in die Luft flog.

‚Treue Seelen‘ von Till Raether ist ein West-Ost-Roman, der das Scheitern einer Beziehung erzählt. Raethers Erstling verhandelt in 54 Kapiteln die wachsende Entfremdung zweier Menschen, die sich nichts mehr zu sagen haben – vielleicht auch davor nie hatten. Während Achim auf seine Verbeamtung hofft, beginnt Nachbarin Marion sein Interesse mehr und mehr zu wecken. Besonders erfreulich: Es beruht auf Gegenseitigkeit. Barbara hingegen versinkt in Lethargie, für die der Supergau in der Sowjetunion zum sprudelnden Katalysator wird. Soviel kurz zum Inhalt des 349 Seiten umfassenden Romans.

Mein Fazit ist einigermaßen durchwachsen, denn Raether braucht viel Anlauf, um in Fahrt zu kommen. Die erkaltende Beziehung der Protagonist:innen zu Anfang ist zäh und ermüdet. Die Dialoge wirken oft hölzern, obwohl sie dem Alltag entlehnt sein sollen. Auch wer einen Berlin-Berlin-Roman erwartet – wie ich -, bekommt die etwas unrunde Käseplatte in viel Tupperware geliefert. Etwa zur Romanmitte wendet sich das Blatt. Die Handlung verdichtet sich. Marion wird prominente Antagonistin mit all ihrer Vielschichtigkeit und dem biografischen Ballast. Auch Eheprobleme, oh je. Ob es der etwas konstruierten Ausflüge in die Hauptstadt der DDR bedarf, müssen Sie selber entscheiden. Lesenswert ist ‚Treue Seelen‘ als Urlaubsroman allemal, wenn auch mit Abstrichen.

  • Gelesen im Juni 2021
  • Ich danke dem btb Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

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