‚Graue Bienen‘ von Andrej Kurkow

Früher, als die Schiguli-Männer mit ihren Wolgas zum Angeln an den Siwerskyj Donez fuhren, schien im Sommer oft die Sonne. Freilich war Eisfischen auch sehr beliebt. Und nun? Nun liegt der Siwerskyj Donez weit im Gebiet der Separatisten, während Sergej Kohlen für den Ofen holt, Teewasser und bisschen Wärme in kalten Zeiten. Die Einwohner haben Malaja Starogradowka lange verlassen. Bis auf Paschka, Sergejs Feindfreund von Kindesbeinen an. Dorfbewohner weg, Ex-Frau mit Tochter weg, Arbeit schon lange weg. Aber die Bienen sind treu und ruhen zur Winterszeit im Schuppen vor dem Gemüsegarten, dem der Obstgarten folgt. Dahinter das Feld und hinter dem Feld die Front. Denn Bienenzüchter Sergje lebt in der Grauen Zone. Niemandsland zwischen den Welten, seit russische Touristen meinen, ihre Landsmänner und -frauen heim ins Reich holen zu müssen.

Andrej Kurkow ist Meister skurril anmutender Geschichten, deren Tiefe sich allmählich erschließt. So auch auf den 445 Seiten über das Leben von Sergej Sergejitsch und seinen Bienen. 445 Seiten, die es braucht. Die es braucht, um zu fühlen, wie es ist, in der Grauen Zone zu leben. Oder eben nicht. Was es bedeutet, allein zu sein. Sergej ist mit sich und bei sich. Ab und an klopft Paschka an die Tür und sie trinken – ja, was wohl? – Wodka. Ab und an treten weitere Personen auf. Nebenrollen sozusagen, wie ein fröhlich neugierig ukrainischer Soldat. Oder russische Separatisten von der anderen Seite bei Karusselino. Und immer in Sorge, die Geschütze fliegen nicht über, sondern in sein Dorf, sein Haus, sein Leben. Sergejs Leben und das seiner Bienen.

In ‚Graue Bienen‘ spielt Sergej Sergejitsch den sympathischen Anti-Helden. Ein Anti-Kohlhaas und Anti-Bahnwärter-Thiel, der selten jammert und nie über das Heute und Hier. Parabelartig strickt Kurkow ein Netz aus Beziehungen um Sergej – persönlichen wie politischen –, das den Lesenden recht gut vor Augen führt, dass Krieg herrscht in Europa. Dass russische Touristen und ihre Freunde im Donbass auf alte Kumpel schießen, mit denen sie und neben Sergej unlängst im Tagebau malochten. Dabei ist ‚Graue Bienen‘ kein primär politischer Roman, gleichwohl Sergej die große Politik nicht erst bei seinem Ausflug auf die Krim zu spüren bekommt.

‚Graue Bienen‘ ist ein Roman, den Sie lesen sollten. Kurkows Sprache ist eine Wucht der leichten Worte. Leichte Worte und harter Tobak, wovon beispielsweise auch Christoph Hein kein Honigverächter ist. Sie wollen wissen, wieso ‚Graue Bienen‘ weniger von grauen Bienen als von grauen Menschen handelt? Was Nüchternheit mit Wodka zu tun hat im Land der Schiguli-Männer und Bergarbeiter im Vorruhestand? ‚Graue Bienen‘ ist für jede Lebenslage ein guter Roman, der zum Denken anregt und Nachdenken einlädt. Parabelartig, mit großem Herzen für das Kleine, für das Schöne. Nicht nur Pinguine auf dem Eis können wandern, sondern auch Bienen, Granaten, Leben. Mein Fazit also: Unbedingt lesen und mir Ihre Meinung schreiben! Ich freue mich auf Ihre Kommentare.

  • Gelesen im Mai 2020
  • Zufallsfund in der Seumebuchhandlung Weißenfels. Recht herzlichen Dank für die Empfehlung der Buchhandlung.

Eine Antwort auf „‚Graue Bienen‘ von Andrej Kurkow

  1. Wenn ich so darüber nachdenke, verwundert es tatsächlich, dass das Thema des Krieges in der Ukraine nicht schon längst literarisch im Rahmen eines Romans verarbeitet wurde, und wenn, dann ging es bislang an mir vorbei. Vielleicht liegt es daran, dass der „bewaffnete Konflikt“, wie man so etwas heute euphemistisch nennt, noch andauert und man für gewöhnlich zeitlichen Abstand braucht, um sich solchen Themen angemessen zuzuwenden!?

    Jedenfalls klingt der besprochene Roman sehr lesenswert, den sehe ich mir wohl mal an.

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