Erwartungsvoll öffnet Bill die Wohnungstür und es ist Leo, der eintritt. Leo, sein erster Gast, sein erster Käufer. Bill hatte Leo eingeladen in die Bowery. Seinem Atelier in SoHo, das mit Zukunft vollgepfropft und die Ecken vor Dreck überquollen. Bills Interesse an Leo bestand darin, zu erfragen, wieso gerade er, Leo, Professor für Kunstgeschichte, sich für seine Arbeit interessiert. Und Leo erzählt und es beginnt ein Gespräch bis tief in den Abend. Den Lebensabend. Ein fortwährender Dialog zwischen Gleichgesinnten, Wohlgesinnten. Zwischen Männern, die beste Freunde werden. Deren Leben sich ähneln und ungleicher nicht sein können.
Die Greene Street wird Leos Zuhause und Zentrum seines Lebens. Mit der Bowery in Hörweite und den aufstrebenden Blick über die Dächer SoHos gerichtet, schreiten Bill und Leo gleichgerichtet voran. Leo öffnet Türen und Bill tritt ein. Bill nutzt die gebotenen Chancen und begegnet Wertschätzung, Erfolg, Ablehnung und Hass. Nebenrollen, Statisten wechseln in der Bowery. Treten auf in Galerien und in New Yorker Kunstgazetten wieder ab. Die Protagonisten bleiben gleich. Zwei Männer, drei Frauen, zwei Söhne. Bill, beinahe zerrissen zwischen den Frauen seines Lebens. Lucille, Mutter seines Sohnes Mark. Und Violet, große Liebe, vielleicht noch mehr. Leo seinerseits erwartet ebenfalls einen Sohn mit seiner Frau Erica. Erica Stein, einer gebürtigen Berlinerin, die während der Nazizeit die Stadt verließ. Leo ebenfalls.
Die Szenerie ist klar und kompakt: ‚Was ich liebte‘ beginnt in New York der 70er Jahre und begleitet Leo bis ins Jahr 2000. Beide Männer, Leo und Bill, leben im und für den Kunstbetrieb. Doch ihre Verbindung trägt länger und weiter. Siri Hustvedt erzählt auf 745 Seiten aus Sicht des Protagonisten und Ich-Erzählers Leo die Geschichte einer Freundschaft. Mehr noch. Der Freundschaft zweier Familie. Die Freundschaft zwischen zwei Männern, drei Frauen, zwei Söhnen. Gleichzeitig reicht ‚Was ich liebte‘ weit über das Familien-Genre hinaus. Hustvedt verwebt insbesondere am Romanende Krimielemente, die gelegentlich hölzern wirken, den mehrfach tragischen Familienepisoden nichtsdestoweniger temporeiche Wendungen geben.
Hustvedt gliederte ihren bereits 2003 erschienenen Roman in drei Teile. Jeweiliges Zentrum bilden die Lebensmittelpunkte Leos. Der Plot weist zudem Analogien auf zu ‚Ein wenig Leben‘ von Hanya Yanagihara sowie ‚Karte und Gebiet‘ von Michel Houellebecq. Darin liegen Reiz und gleichzeitig Stärke des Romans. Denn während die Ostküsten-Bohème Familienglück ohne wirkliche Sorgen plant, umplant und schließlich verwirft, finden sich seitenweise kunsthistorische Einordnungen zu den fiktiven Arbeiten Bills. Wenn auch mit Längen hat Hustvedt eine Sammlung epochaler Kunstwerke geschaffen, deren feingeistiger Duktus inspiriert und Ausstellungskatalogen keineswegs nachsteht. Hustvedt, bildende Künstlerin mit präziser und schöner Sprache.
Mein Fazit: ‚Was ich liebte‘ ist ein Roman der Zeit braucht. Gönnt man sich Zeit, verfliegen die Seiten wie Leos Lebensjahre. Eine Empfehlung für all jene, die Gesellschaftsromane schätzen und New York lieben.
- Gelesen im Mai 2020
- Herzlichen Dank, lieber Fabian, für deine schätzenswerte Empfehlung.
2 Antworten auf „‚Was ich liebte‘ von Siri Hustvedt“