Nettetal, du verschlafene Schönheit mit weiten Wiesen, Wäldern, schwungvoll seichten Hügeln. Geschrieben steht es im Prospekt des Tourismusvereins. Werbung, PR, als noch niemand den Begriff kannte. Vor zehn, 20, 40 Jahren rauchten hier Schlote. Stechuhren klicken, nicht die Fotoapparate. Yilmaz hat Nettetal gewählt, als alle versprachen, dort gäbe es Arbeit. Yilmaz und Fatma gehen. Das junge Paar sucht sein Glück in Almanya weit im Westen. Die Schuhfabrik, die Gießerei, das Presswerk. Kinder will Fatma unbedingt. Die viele harte Arbeit. Die Last wiegt doppelt auf ihren Schultern, denn als Dinçer endlich das Licht erblickt, ist die Kneipe seines Vaters, diesem Nichtsnutz, längst rot, tiefrot in allen Bilanzen.
Was tut ein Junge, der älteste der Familie, fragt sich Dinçer? Die Familie unterstützen, nach Kräften helfen. Eines Morgens gegen vier schleicht er ins Auto, versteckt sich geschickt und als die Mutter die anderen Frauen für die schwere Feldarbeit abholt, fährt er mit. Kein Gewese, der Bauer ist dankbar, die Mutter schweigt. Auf dem Traktor, drei Mark die Stunde. Dinçer (8) pflügt, gräbt, fährt, trägt – nein – schleppt mit seinem kleinen Körper, während Mutters Kraft und Wille schwinden, versiegen. Und irgendwann das Ich-will-nicht-mehr, Ich-muss-raus. Schreiben will er, Theater spielen. Das Kopfschütteln der Mutter. Blinde, stumme Wut und Dankbarkeit, die Dinge zur Sprach zu bringen.
„Ich sage es immer wieder, zwischen Himmel und Erde haben sich hier Millionen Geschichten aufgestapelt. Du versuchst jetzt, einen Bruchteil davon aufzuschreiben, schön […] Glaub mir, auch wenn ich es spät begriffen habe, was dein Schreiben bedeutet, es füllt in mir eine Leere, bitte, schreibe weiter, auch das hier, das alles musst du aufschreiben.“ (S. 124)
‚Unser Deutschlandmärchen‘ ist kein Roman. Dieses Deutschlandmärchen ist klagvolle Lyrik mal als Prosa, mal als Gedicht. Die autobiografischen Streiflichter von Dinçer Güçyeter sind Hommage und Klage auf 213 Seiten, die von Lebenshärten erzählen, von Entbehrung, von Mölln und Solingen und einer Mutter, die alles gibt und doch verliert. Im Kanon der vielen hat Güçyeter seiner Familie als auch dem migrantischen Arbeitermilieu mit Dringlichkeit und Sensibilität hallende Stimmen verliehen, die ohne Vorwurf appellieren, danken, bereuen, Wertschätzung der kalten Heimat Almanya einfordern. Die Mutter habe an sie ihr Kind verloren, deklamiert Fatma, als ihr Sohn den Weg hinauswagt in eine ihr fremde Welt. Der Autor und Ich-Erzähler fängt mit Liebe die Klagen ein. Aus Liebe zu ihr. Aus Liebe zur Sprache mit goldenen Erinnerungen an das für die Eltern verlorene Anatolien, mit den Verheißungen aus süßen Märchen der Werkhallen bis ans Ende der nahen Peripherie.
Dinçer Güçyeters Debütroman ‚Unser Deutschlandmärchen‘ überzeugt inhaltlich und formal gleichermaßen. Sein sequenzielles Changieren zwischen den Formen, verbunden mit kapitelweisen Wechseln in der Erzählperspektive, verleihen diesem Roman eine Mehrdimensionalität, die sich doppelt niederschlägt. Im hochkonjunkturellen Genre der postmigrantischen Literatur ist ‚Unser Deutschlandmärchen‘ ein eindrucksvolles Werk unter den vielen, dem ich mindestens die gleiche Beachtung wünsche, wie sie beispielsweise Fatma Aydemir für ‚Dschinns‘ zu Teil wird. Aus den genannten Gründen sticht ‚Unser Deutschlandmärchen‘ hervor aus dem breiten Angebot vieler wichtiger, auch guter Romane. Doch selten habe ich einen Roman so dezidiert empfohlen, wie diesen.
- Gelesen im März 2023
- Aufmerksam geworden durch die Besprechung von Insa Wilke in der Süddeutschen vom 2. Dezember 2022.