‚Felix‘ von Holger Brüns

Göttinger Leben 1984/85. Tom absolviert seinen Zivildienst, als plötzlich Felix neben ihm steht auf Station. Noch drei Touren, dann ist Feierabend. Proben von der Station müssen ins Labor gebracht werden. Oder umgekehrt. Ein guter Job, eine leichte Zeit. Einen Abend später, oder zwei. Beide liegen in der Spätsommersonne, trinken Wein, rauchen. Weiterziehen in die Hauptstraße, wo Felix wohnt? Die Hauptstraße ist weit mehr als eine Straße. Sie ist Inbegriff und Zentrum der autonomen Szene. Keine Straße, sondern ein Gebäude, Felix‘ Domizil, sein Zuhause. Auf dem Flachdach die Gespräche der anderen. Kühle Luft einatmend, blicken beide in die Sterne. Jetzt eine Sternschnuppe, denkt Tom, während sich ihre Finger nicht berühren.

„Felix und Katja. Felix und Tom. Eifersucht ist bürgerliche Scheiße. Ich hätte Felix gern für mich allein.“ (S. 36)

Ein Jahr später. Rien ne va plus. Als Felix mit zwei Gläsern Sekt in der Hand, eins davon Tom reicht, ist ohne Worte alles gesagt. Unausgesprochen sind die gezählten Tage. Dass Tom Felix überleben wird, wird ihm erst Tage, Wochen später klar. Deutlicher durch die Fieberschübe, den Durchfall. Medikamente lehnt er ab und besucht weiterhin die Autonomen-Treffen, die Demos. Gegen Brokdorf demonstrieren, gegen die Räumung der Hauptstraße. Es ist die rasende Zeit, die wenigen Monate und Jahre am Anfang von Toms Leben. Der Zivildienst vorbei, Pläne sind noch keine gemacht. Denn Felix ist positiv. Planen für ein Leben ohne ihn?

„Felix hat seine Entscheidung getroffen. Es ist meine, die noch aussteht. Seit Wochen drücke ich mich davor […] Aber alles, was Felix dazu sagt, ist: ‚Mach dein Ding. Ich komm schon klar‘.“ (S. 152)

Holger Brüns‘ aktueller Roman ‚Felix‘ ist der Prolog seiner Sommernovelle ‚Vierzehn Tage‘, in der der Protagonist und Ich-Erzähler längst seine offene Entscheidung gefällt hat. Im Zentrum stehen die Göttinger Jahre, die Zeit des Probierens und Ausprobierens, des Verliebens und der Suche nach dem eigenen Weg auf weiten Landkarten. Brüns erzählt von der autonomen Szene, ihren Motiven, Haltungen, Positionen und Diskussionen. Das Private ist politisch. Bürgerliches, bitte ablegen wie den alten Nerz der Großmutter. Dabei schickt Brüns seine Protagonist:innen an die noch jungen Orte der homosexuellen Emanzipationsbewegung. Sie besuchen das Waldschlösschen, engagieren sich in der Aidshilfe. Wird nicht gegen die Mittelmäßigkeit eines vom Mehltau der CDU erschlafften Landes rebelliert, sind die innere und äußere Verhandlung über die Zukunft – nicht nur die eigene – die inhaltliche Verortung auf 183 Seiten.

Dabei ist ‚Felix‘ ein Roman, der beglückend mäandert und auf lange Sicht mit sprachlicher Klarheit Ideen bis zur Entscheidungsreife schärft. Ein Roman, der Aids ohne Voyeurismus thematisiert. Der vom Sturm und Drang der wilden 20er erzählt und mich an die eigene Zeit im Malzhaus und der Alten Kaffeerösterei erinnert. Im besten Sinne ist ‚Felix‘ Coming-of-Age ohne Vorstadtwohlstand und Vergiss-mein-nicht. Ein Roman, den ich mit nachdenklicher Freude gerne gelesen habe.

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