Achtung, Theater! – ‚Die Ärztin‘ am Burgtheater Wien

Der Konflikt ist schnell erzählt: Die Patientin, ein 14-jähriges Mädchen, liegt aufgrund einer starken Sepsis im Delirium und verstirbt. Die leitende Ärztin Prof. Ruth Wolff – mit Doppel-F – entscheidet, absolute Ruhe habe oberste Priorität. Die Patientin müsse stabilisiert werden und solle im Fall der Fälle friedlich einschlafen. In diese Situation tritt ein katholischer Priester auf den Plan. Die Eltern, durch eine Reise abwesend, weisen den Priester vor Abflug telefonisch an, ihrer Tochter die letzte Ölung zu erweisen. Prof. Wolff verweigert aus medizinischen Gründen den Zutritt. Als das Mädchen wenig später verstirbt, ohne die Sakramente erhalten zu haben, finden sich die Figuren in einem Setting wieder, dass Hauptseminare über Medienlogik und politische Praxis füllen könnte.

Denn selbstredend ist der Fall komplexer, als augenscheinlich dargestellt. Altlasten in Kellern werden gesichtet, vernarbte Wunden begutachtet, Leichen entdeckt und ausgegraben, Messer gewetzt. Männliche Machtambitionen, unbefriedigte Karrierechancen unter Kolleg:innen, Protegieren durch Gruppenzugehörigkeit – Sie sind auch Jüdin, Prof. Wolff, nicht wahr? –, der sachliche Diskurs und Wettstreit um das fachlich beste Argument wird unterminiert mit moralischen Phrasen. Sticheleien, Unterstellungen, persönliche Deformierungen. Moderne Kommunikation und eine ungefilterte öffentliche Meinung konfrontierten die leitende Ärztin Prof. Wolff mit der eigenen Unantastbarkeit. Identitätspolitik am Krankenbett in 2:45 Stunden mit einer Pause.

Arthur Schnitzlers ‚Professor Bernhardi‘ dient als Vorlage der freien Adaption ‚Die Ärtzin‘ in Regie von Robert Icke am Burgtheater Wien. In seiner Arbeit holt Icke den Stoff ins soziale wie mediale Anthropozän, in dem narzisstische Zersetzung die Debattenkultur, demokratische Grundsätze und Selbstverständlichkeiten im gemeinschaftlichen Zusammenleben grundsätzlich in Frage stellt. Frei nach Böckenförde: Galoppierende Hetzjagden auf Social Media entziehen der Gesellschaft ihre eigenen Grundlagen. Und die handelnden Akteur:innen? Loyalität und die eigene Integrität zwischen Identität(en) zerreiben?

Ein starkes Ensemble verhandelt in einem wunderbar zurückgenommenen Bühnenbild die öffentliche Hinrichtung einer Koryphäe mit menschlichen Blindstellen. Dabei liegt die Kunst, ‚Die Ärztin‘ aka ‚Professor Bernhardi‘, zu fassen, im Fokus auf die Reduktion. Bedauerlicherweise verfehlt Robert Icke das Ziel, indem er den zweiten Teil mit persönlichen, privaten, also völligen Nebenschauplätzen unnötig flutet. Allein die Dekonstruktion von Geschlecht, Farbe, Religion, Sexualität der Schauspielenden hätte die Szenerie reichlich kontrastiert. Ferner ist Sophie von Kessel als Ruth Wolff in der Hauptrolle eine enttäuschende Fehlbesetzung. Ihr Unvermögen an mimischem, habituellem, sprachlichem und szenischem Spiel wird zum stumpfen Reklamieren des Textes mit genau einem Gesichtsausdruck: der Empörung. Die Gesamtleistung der Arbeit wird dramatisch verschmälert.

Alles in allem ist ‚Die Ärtzin‘ dennoch eine sehenswerte Arbeit. Der verhandelte Stoff ist aktueller denn je und zu erleben, wie in Österreich auf die Fragen aktueller Diskurse geantwortet wird, lohnt.

  • Gesehen am 10. Februar 2023
  • Und hier die Stimme der Nachtkritik.

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