Noch kurz bevor dem Elektrizitätswerk das Brennholz ausgeht, rumpelt die Neuner-Straßenbahn dem Bessarabska-Platz entgegen. Samson Koletschko erahnt, dass nicht nur die Straßenbahn stehen bleibt, sondern auch die Lichter erlöschen werden und Banditen, Räuber, Diebe und falsche Tschekisten die dunklen Gassen bevölkern. Quasi eigenmächtig haben sich bereits zwei zwielichtige Rotarmisten dem Arbeitszimmer des verblichenen Vaters bemächtigt. Doch seit Samson bei der Miliz ist, steht er auf Augenhöhe mit eben diesen – immerhin. Der Inhalt seines Holsters sowie gestempelte Papiere zeichnen ihn aus als wichtiges Mitglied der neuen Sowjetmacht. Dabei hat die Sowjetmacht weit weniger Macht, als dem Staate zu wünschen wäre. Atamanen, Weißröcke, überall stehen die Feinde vor Kiew, während Samson nun bei der Miliz für Ordnung sorgt.
„An diesem Abend gab es Strom in der Stadt, wenn auch nur schwach, aber sie schalteten das Licht nicht ein. »Was meinst du«, fragt Samson ganz unvermittelt, »wenn alle Atheisten werden, wird Gott dann vergessen?« »Natürlich«, antwortet Cholodny. […] »Aber an was werden die Menschen glauben, wenn Gott vergessen wird?« »An sich selbst, an die Zukunft, an die Kraft der Natur«, begann der ehemalige Priester zu sinnieren.“ (S. 335)
Im kalten Frühjahr 1919 ruft Andrej Kurkow zum allgemeinen Subbotnik. In seinem aktuellen Roman ‚Samson und Nadjeschda‘ führen weniger der Wille als die Einsicht in die Notwendigkeit Samson, den gutwilligen Protagonisten, zur Tarassowskaja 3, dem Gebäude der sowjetischen Miliz. Und da dem Vollwaisen Samson obendrein Geld für Allernötigstes fehlt, wird er Hüter der neuen Ordnung. In erster Linie aus Eigennutz und dem Wunsch, seinen ermordeten Vater zu rächen, gerät der Jungermittler schnell in einen Kriminalfall, der größer und größer werdend, Fragen aufwirft und Samson mutig Antworten finden lässt.
Andrej Kurkows ‚Samson und Nadjeschda‘ ist ein Roman, dessen Langsamkeit trägt wie Kiews rumpelnde Straßenbahnen bei Stromausfall. Auf den 367 Seiten sind Stromausfälle wohlwollende Begleiter. Im Duktus und Stil der modernen russischsprachigen Literatur erzählt der Autor einen Gesellschaftsroman in Form eines märchenhaften Krimis mit grotesken Elementen: das abgeschlagene Ohr des Protagonisten, Samsons Antagonistin, die ihren Platz im Roman nicht findet oder der opak bleibende Chefmilizionär Nadjen.
In Zeiten des Chaos‘ ist ‚Samson und Nadjeschda‘ ein Roman, der Ordnung sucht und erwartbare Bezüge zum Heute und Hier verneint. Gleichzeitig sind sowohl Inhalt als auch Stil ein merkwürdiges Unterfangen, eine bekannte Eigenart in Kurkows Romanen. Wer sich Ablenkung vom aktuellen literarischen Diskurs wünscht, ist bei diesem Roman gut aufgehoben. Doch wer mit moderat Fantastischem wenig anzufangen weiß, lässt besser die Finger vom Leben in Kiew vor 100 Jahren.
- Gelesen im Oktober 2022
- Aufmerksam geworden durch eine Vorankündigung des Diogenes Verlages.