Die Sommersonne steht hoch über Addis Abeba, als Attilio Profeti 1936 beschließt, für einige Zeit in Äthiopien zu bleiben – in der Hauptstadt des neuen Imperiums. Rom, das fade Rom, kommt auch ohne ihn aus, denkt Profeti selbstsicher. Profeti, groß, sportlich, intelligent, der sich seiner Selbst sehr sicher ist. Mit dieser Haltung verrichtet er seinen Dienst als unlängst beförderter Scharführer, als Freiwilliger, als Mann, der bekommt, was er möchte. Profeti weiß, als Glücksbringer der Mächtigen und Großen wird er immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen.
Der Sonnenseite schenkt Attilio Profeti mehrere Kinder. Eines Tages, als Iliaria, seine einzige Tochter, zum Feierabend die sechs Etagen ihrer Wohnung auf dem Esquilin bezwingt, steht ein junger Mann vor ihrer Tür. Ein Schwarzer, ein Einwanderer, der die Frage an sie richtet, ob Attilio Profeti hier wohne. Warum er das wissen wolle, fragt Iliaria. Weil Attilio Profeti, Euer Vater, mein Großvater ist.
Mit diesem Paukenschlag eröffnet Francesca Melandri ihren 2017 erschienenen Roman ‚Alle, außer mir‘, in dessen Zentrum der Patriarch und frühere Filou Attilio Profeti steht. In persona des Protagonisten und seiner Familie verhandelt die Autorin auf 604 Seiten die bigotte Geschichte Italiens der letzten 100 Jahre mit Profeti senior als Kulminationspunkt. Faschismus, Kriege, der hunderttausendfache Tod durch Giftgas und Folter und über allem der weite Schleier des Vergessens und des Nichtwissens nur wenige Jahre später, den Profeti für seinen Aufstieg gut zu nutzen weiß.
Mit großer Empathie und eindrucksvoller Sprache – in einer ausgezeichneten Übersetzung von Esther Hansen – erzählt Francesca Melandri eine moderne Parabel: vom faschistischen Italien einerseits und dem Italien des Silvio Berlusconi andererseits. Von Diskurverschiebungen, als Unsagbares wieder salonfähig wurde, als Mussolini-Zitate geschichtsvergessen alltäglich wurden, als Flüchtende auf Grundlage europäischen Rechts in Ausreisezentren zeitlich unbestimmt interniert und auf ihre Abschiebung warten. Und warum?
„Ich biete Ihnen ein gutes Gehalt und exzellente Aufstiegschancen. Ich biete Ihnen aber nicht meine Dankbarkeit und genauso wenig mein Vertrauen. Das gibt es nur zwischen Gleichrangigen, und das sind wir beide nicht. Sie sind der Sohn eines Bahnhofvorstehers, in meinen Adern fließt das Blut von sieben Päpsten. Sie verstehen sicher, dass keiner von uns je darüber hinwegsehen kann.“ (S. 274)
Francesca Melandris dritter Roman ‚Alle, außer mir‘ ist ein Roman über das Vergessen und Erinnern, das Finden ungeahnter und unerwünschter Wahrheiten. Ein Roman, der die italienische Seele mit Selbstironie und ungeschminkter Ehrlichkeit analysiert. Der die verdrängten Verbrechen des Faschismus aufs Tableau bringt, Korruption, Vetternwirtschaft, dolce vita.
Mein Fazit: ‚Alle, außer mir‘ ist Gesellschaftsroman und historisches Sachbuch gleichermaßen. Während die gegenwärtige Geschichte dramaturgisch über alle Passagen den Spannungsbogen hält, sind die Retrospektiven insbesondere ab Seite 350 ermüdend und mit handwerklichen Längen überfrachtet. Nichtsdestoweniger ist ‚Alle, außer mir‘ ein inspirierender wie nachdenklicher Gesellschaftsroman. Eine literarische Wunderkiste, die überrascht und in weiten Teilen überzeugt.
- Gelesen im Oktober 2022
- Herzlichen Dank, lieber Udo, für deine Urlaubsempfehlung.