Die noch kalte Morgensonne steigt auf über den Kurven der abgelegenen Straße und scheint ins Fenster, an dem David steht und schaut. In die Zukunft schaut, vor allem aber blickt er zurück. Er blickt zurück auf Paris, die letzten Monate in Paris zusammen mit Freunden und ihren fadenscheinigen Argumenten. Mit Herren der Gesellschaft – welcher genau? Einer guten oder einer noch besseren? Herren, die auf ihrer Bühne Rollen spielen, sich selbst spielen und ereifern am Rausch, an der Jugend, der süßen Jugend und dabei ihrer eigenen zynisch nachblicken. Zwischen ihnen: David an der Bar. Er, stets mit gefülltem Glas in der Hand, während Giovanni ihn fragt: Sie wünschen?
Sein rasendes Herz damals an der Bar, ein kaltes nun hinter kaltem Fensterglas. Wie war das noch, als Hella in Spanien war, Davids Verlobte? Wie war die Zeit in Giovannis kleinem Zimmer, das ein Zuhause werden sollte. Giovanni wünschte es und David – David sprang auf, ließ es nicht zu, konnte nicht, wollte nicht, lief weg in genau die Bars, aus denen er floh. Vor Hella floh in Giovannis Arme. Wie sagte Jacques noch gleich?
„Verwirrung ist ein Luxus, den sich nur die ganz, ganz Jungen leisten können, und so jung bist du nicht mehr.“ (S. 51)
Ein weiser Mann, dieser Jacques. Oder Giovanni? Mit seinen feurigen Augen hinter der Bar. Seiner Verwegenheit und Aura als Mauer gegen all jene, aus der guten, der besten Gesellschaft. Wie sagte Jacques zu David in seiner Verwirrung noch gleich?
„Liebe ihn […] liebe ihn und lass zu, dass er dich liebt. Meinst du, irgendwas anderes unter der Sonne ist wirklich wichtiger?“ (S. 68)
Große Worte mit Champagner begossen. Übergossen in den Bars von Paris. David, Ende 20 und Amerikaner auf Europatour, lebt seinen Eskapismus von sich selbst. Die innere Verleugnung seiner Homosexualität, die er früh erkennt und mit aller Kraft unterdrückt, ist zentrales Thema von James Baldwins wohl bestem Roman ‚Giovannis Zimmer‘. Die äußere Handlung verarbeitet schwules Leben in den 1950er Jahren mit allen Widersprüchen und der Verlogenheit, der Sehnsucht nach Normalität – welcher auch immer.
‚Giovannis Zimmer‘ folgt dem klassisch fünfteiligen Dramenaufbau. Auf 192 Seiten zuzüglich langem Nachwort sitzen Liebe, Hass, Selbsthass, innere Unfreiheit, Angst und Scham am Stammtisch eng beieinander. Filigran erkundet Baldwin das Selenleben seiner Protagonist:innen und findet letztlich nur kalte Morgensonne hinter kaltem Fensterglas. ‚Giovannis Zimmer‘ ist ein Roman, der rennt und schreit, der schmerzt, der umfängt mit Zärtlichkeit und einlädt, abseits aller Konventionen noch ein Glas auf das Leben zu nehmen. Ein Roman, der mit sprachlicher Eleganz in einer ausgezeichneten Übersetzung von Miriam Mandelkow auch 60 Jahre nach Erstveröffentlichung eine ausgezeichnete Empfehlung ist.
- Gelesen im April 2022
- Herzlichen Dank, lieber Daniel, für deine Empfehlung.
Wunderbare Rezension, getreu dem Motto des Buches, dem Zitat von Walt Whitman:
„Ich bin Mensch, ich habe gelitten, ich war dabei.“
Ich habe immer wieder an dieses Buch gedacht. Vielleicht sollte ich es tatsächlich mal wieder lesen. Eine eindrucksvolle Lektüre, die haften bleibt.
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Danke für deine lobenden Worte, Alexander. Mich hat das Buch wirklich gerührt. Die innere Zerrissenheit transportiert Baldwin grandios und Buch erneut zu lesen, lohnt auf jeden Fall.
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