‚Der Halbbart‘ von Charles Lewinsky

Zu einer Zeit, als der Bruder des Herzogs König wurde und auch ein zweiter zum König gewählt, war es der Sebi, der jüngste von drei Brüdern, der glücklich war und seinen Weg für die Zukunft fand. Sein ganz großer Bruder, der Geni, der hatte beim Roden einen schlimmen Sturz und später sein Bein verloren. Der Geni aber war klug und das wussten die Leute und auch der Landammann in Schwyz, dem der Geni fortan zur Seite stand. Der Poli, der andere Bruder vom Sebi, der ist ein Raufbold. Soldat will er werden wie der Onkel Alisi und saufen wie der Rogenmoser Kari. In seinem Fähnlein stellt er sich richtig großkopfert an und Angst will er machen vor allem den Mönchleins in Einsiedeln.

Die Mutter vom Sebi ist früh gestorben, kurz nachdem der Halbbart dem Geni das Leben rettete. Der Halbbart kommt von ganz weit her, aber die Narben hat er vom Teufel, sagen die Leute. Dem Geni hat er jedenfalls das Leben gerettet, denn er versteht viel von den Kräutern und überhaupt von den Dingen. Der Halbbart hat auch dem Sebi immer gut zugesprochen, dass seine Geschichten, die er im Kopf hat, im Kloster guten Rat geben werden und der Sebi schreiben lernen kann im Kloster. Daraus wurde nichts, denn die Mönchleins fühlen sich besser als die anderen, genau wie der Hubertus es sagte und dann ist der Sebi vom Kloster ausgebüchst. Zum Glück traf er das Teufels-Anneli, denn:

„Der Swit hat schon in der Wiege einen Wolf erwürgt, und der David hat gegen den Goliath gewonnen, aber das waren doch richtige Helden, und ich bin keiner, sondern nur der Eusebius, der Finöggel, dem sie im Dorf Stündelerzwerg sagen und in Ägeri Gottfriedli.“ (S. 349)

Aus einer Zeit, als die Menschen der Talschaft Schwyz gottesfürchtig ihr Leben lebten, erzählt Charles Lewinsky eine wundervolle Geschichte. Der Protagonist und Ich-Erzähler Sebi, ein Junge am Vorabend des Erwachsenseins, berichtet in 83 kurzen Kapiteln von der Suche nach seinem Platz in der Welt als Bauersjunge, der vieles kann, aber kein Bauer sein. Die 677 Seiten sind Sammelsurium der Bräuche und Sitten, die Lewinsky geradezu märchenhaft in einen Kosmos aus Religion und Heiligen, Jahreszeiten und Arbeit, Gewalt und Hunger verwebt. Allgegenwärtiger Aberglaube steht dabei konträr der Vernunft gegenüber, versinnbildlicht durch Halbbart, Geni und wenigen Weiteren, allesamt am Rand der Dorfgemeinschaft stehend.

‚Der Halbbart‘ ist sprachlich ein ungewohnt kompliziert verfasster Roman, der nach gutwilligem Bemühen aber sehr viel Freude bietet. Lewinsky erzählt Märchen von der kleinen und der großen Politik, die viel mehr sind als nur gute Unterhaltung. Oft erinnert ‚Der Halbbart‘ an Daniel Kehlmann ‚Tyll‘, die gegeneinander gelesen ein lohnenswertes Unterfangen sind. Als Sozialstudie schweizer Berggesellschaften im 17. Jahrhundert ist ‚Der Halbbart‘ dem ‚Tyll‘ einerseits ähnlich und geht andererseits deutlich über ihn hinaus. Formal, inhaltlich und stilistisch eine große Literaturfreude, die viel zu lang unbeachtet auf Halde lag.

  • Gelesen im Februar 2022
  • Mein herzlicher Dank gilt dem Team der Buchkantine, Dortmunder Straße 1 in Moabit für diese wundervolle Empfehlung.

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