Achtung, Theater! – ‚Linie 1‘ im Grips Theater

6:14 Uhr, Bahnhof Zoo. Sunny blickt in die aufgehende Sonne über der Ruine der Gedächtniskirche. Der Verkehr tobt in Westberlin 1986. Im Stau die Autos, im Takt der Metropole die U-Bahn nach Kreuzberg 36. Sunny sucht ihren Märchenprinzen, der ihr Herz entführte und eine Erinnerung zurückließ. Nicht nur schwanger ist Sunny, sondern auch naiv. Eine Einladung für das bunte Ensemble der Mauerstadt, beim Stelldichein einen guten Morgen zu wünschen: den Nachteulen und Ruhelosen, den Arbeiter:innen, Angestellten, Menschen in Ämtern, Lokalen und Betrieben, den Berufstrinkenden, Hallunken, Reichen und Neureichen. Den Protagonist:innen, die ihr Publikum im eigenen Drama sind.

Kulminationspunkt ist die U-Bahnlinie 1, Durchmesserlinie und Soziogramm zwischen Schlesischem Tor und Ruhleben. Bei Sunnys erster Fahrt zum Schlesischen Tor – Wann kommt denn der Bahnhof Kreuzberg? Betretenes Schweigen im vollen Wagen – trifft sie Bambi, einen gutherzigen Möchtegern und Vertragspunk auf der Hochbahn. Bambi verspricht, Sunnys Rockstar aufzuspüren. Versprochen ist versprochen, doch bis Bambis Ehrenwort mit Fahnen und Rocktrompten zum großen Finale eines langen Tages wird, erlebt Sunny viel Gutes mit Glück, Schnaps und großartiger Livemusik.

Als am 30. April 1986 die Linie 1 im Grips Theater zum ersten Mal das Depot verließ, wusste niemand, dass ‚Linie 1’ Deutschlands meist gespieltes Musical werden würde. Auch drei Jahrzehnte später erzählt Volker Ludwigs Berlin-Revue mit fröhlichem Blick von den Menschen der großen Stadt. In der moderat überarbeiteten Fassung wird die über drei Stunden dauernde Fahrt zu Beginn historisch kontextualisiert. Auch einige Weiterentwicklungen an Kostüm und Ausstattung gelingen gut im schnellen Karussell der Linie 1.

Attraktion ist insgesamt weniger der Plot als die Leerstellen zwischen den Zeilen. Liebevolle Szenen, teilweise mit Schauspielenden der ersten Stunde, entführen in die Stadt ohne Sperrstunde, die Stadt David Bowies und der Wilmersdorfer Witwen. Es ist herrlich zu leben in Berlin, singt Hermann beim Morgenkaffee. Fürwahr. Denn ‚Linie 1‘ ist mehr als die Bezeichnung einer U-Bahn. ‚Linie 1’ ist Berliner Seelenleben verdichtet auf 50 Charaktere, die auch heute noch gerne mit der U-Bahn fahren. ‚Linie 1’ ist ein Stück für Besucher:innen und Ankommende, für Nachtvögel und Daheimgebliebene, für Reisende und Findende, deren Bahnhof Zoo heute die typische Umzugsrobbe in den Wedding ist. Höchste Zeit also für eine Netzerweiterung.

  • Wieder gesehen am 12. Februar 2022
  • Und hier einige Stimmen der Nachtkritik.

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