Unerwartet kalt ist es. Und es schneit. Heute schneit es selten in dieser Gegend. Und weiß ist der Schnee. Früher war der Schnee schwarz. Und wenn er nicht schwarz war, dann war er grau wie die Wäsche auf den Leinen und die Häuser und Wiesen und Wälder. Heute fällt weißer Schnee, während ein Mann den Bahnsteig entlang geht. Ein vorbeifahrender Güterzug mit schweren Wagen wirbelt ihn auf, den Schnee. Und der Mann steht im Weiß, steigt die Treppe hinab, geht hinaus ins Weiß. Es ist Heiligabend ohne Ruß und ohne Kohle und ohne Bergbau.
Der Bergbau, die Erde und der Dreck waren immer sein Leben. Sein ganzes Leben unter Tage, so berichtet der Großvater es seinem Enkel. Der Junge will Bergmann werden wie sein Großvater. Von Schächten träumt er, von Strecken, von Stollen und der Fürstin in der Tiefe. Ihre Glocken hört er des Nachts, die ihn rufen. Er spürt die Dunkelheit, spürt die Kälte. Sind Stollen nicht warm und werden wärmer und wärmer dem Grunde entgegen?
Am Grunde, wo die Drachen wohnen. Sein Dorf gibt es nicht mehr, schon längst nicht mehr. Die Drachen fraßen und fressen und nehmen die Dörfer. Manchmal fahren sie an den Ort, wo einst die Häuser standen. Heute leben die Drachen dort. Heute noch. Morgen geht es ihnen wie den Menschen, die dort ihre Häuser hatten. Die kleine Stadt nebenan ist ihr Zuhause nun. Auch hier hört man die Drachen. Andere Drachen. Drachen in den Herzen der Menschen. Der jungen Menschen, die dumpf sind. Dumpf und nicht graben und forschen. Die einfach dumpf sind.
„Die Idee, gesellschaftliche Brüche als einen ganz normalen Steinbruch für eine (deutsche) Literatur zu sehen, ist anscheinend abhanden gekommen, biografisch/persönliches Klein-Klein, dazu banale Histörchen, biederes Erzählen, keine Reisen mehr ans Ende der Nacht oder meinetwegen an ihren Anfang!“ (S. 101)
Ist das so? Nicht für Clemens Meyer. Clemens Meyer ist Steiger und Hauer zugleich. Er schürft in den Brüchen und wirbelt auf. Staub wirbelt er auf. Dreckig, in jede Ritze kriechend, sich einnistend. ‚Stäube‘ sind drei Miniaturen und ein Nachwort auf 128 Seiten, die mehr wiegen als 1000 Jahre alte Steine. Meyer schaut tief in die Augen seiner Protagonist:innen und lässt sie erzählen. Von ihren und seinen Geschichten im Osten damals und heute. Formal ist der Autor nah an ‚Die stillen Trabanten‘, auch wenn sprachlich so manches mystisch wirkt. Seine erzählten Kurzgeschichten verzaubern und sind moderne Märchen der Reduktion.
Weshalb, schreibt Meyer in seinem Nachwort Wozu Literatur, in dem er klug, manchnal zynisch, breit darlegt, was Literatur kann und was die Aufgabe der Literatur zu sein hat. Nach dieser Maxime handelt er – nicht nur in ‚Stäube‘, doch hier vielleicht auf besondere Weise. 128 hinreißende Seiten, die sich verneigen vor der Literatur und ihrer Aufgabe.
Eine Kurzgeschichte muss man auf einer Bahnfahrt schaffen. Ich schaffte drei plus die Frage Wozu Literatur. Das beste Buch des Jahres. Bananenbrote gibt es genügend.
- Gelesen im Dezember 2021
- Ein Zufallsfund durch Eigenrecherche. So kanns gehen. Schöne Feiertage!