Wie jedes Jahr, jetzt, Ende August. Umbruch, Bruch der Jahreszeiten von Sommer zu Herbst. Die großen Ferien sind vorbei. Inge Lohmark, Biologie und Sport, seit über 30 Jahren, weiß: Startschuss. Vorschuss. Letzter Schuss vor den Prüfungen. Prüfung des Lebens. Seit über 30 Jahren dumpfe Gesichter. Vom Kind zum faulen Geist. Pubertät. Metamorphose. Erwachsenwerden. Alle Jahre wieder. Nützt alles nichts. Letzter Jahrgang an dieser Schule. Die Hefter weg, meine Damen und Herren. Unangekündigte Leistungskontrolle. Photosynthese, Domestikation, Embryogenese, mimi mini Mimikry. Nicht im hinteren Vorpommern. Hinter den Poldern vor abgeernteten Äckern die sterbende Stadt. Die Polytechnische Oberschule, ab `90 Charles-Darwin-Gymnasium, schließt.
„Alle machten sich vom Acker. Nichts hatten sie begriffen. Wer die Welt verstehen wollte, musste zu Hause damit anfangen. In der Heimat. Unserer Heimat. Von Kap Arkona bis zum Fichtelberg. Abhauen war ja keine Kunst“ (S. 41).
Claudia verstand das nicht. Ihre Tochter also. Amiland schon seit einigen Jahren. Des Jobs und seinetwegen. Job weg, Mann weg, Tochter weg aus der alten Heimat. Dieser letzte Jahrgang wird es beweisen. Die mit dem Pferdeschwanz. Erika vielleicht. Nein, ganz sicher Erika. Ohne Anstrengung keine Leistung. Der alte Automotor weiß, wovon sie spricht. Hat schlapp gemacht und nun? Nun sitzt Inge Lohmark im Schulbus. Juchtelt in jede Sackgasse. Sackgasse der Evolution? Ach was.
„An Überforderung ist noch niemand gestorben. Ganz im Gegenteil. Wohl aber an Langeweile“ (S. 105).
Fordern und fördern. Das Beste nach außen kehren. Mit bestem Wissen und Gewissen auf das Leben vorbereiten. Mit Beharrlichkeit und Pflicht wissen, was zu tun ist. Selbst auf diesem trostlosen Stück Land, diesem Flecken Norddeutschland ohne Zukunft. Judith Schalansky beweist das Gegenteil in ihrem Roman ‚Der Hals der Giraffe‘. Einem Bildungsroman, der in Erinnerung ruft, worum es eigentlich geht: mit einem Lächeln weitermachen. Und Schalansky stellt eine Protagonistin in den Mittelpunkt ihrer Welterkundung, die kundiger nicht sein kann. Alle Naivität längst verloren. Zynische Weltsicht mit weichen Händen. Liebenswert auf den dritten Blick, dass einem die Tränen kommen. Sprachlich hämmert die Autorin im Stakkato Merksätze, Weisheiten, Einsichten in Inge Lohmarks Mund, dass Hirne überquellen und Herzen brechen. Vor Bitterkeit, vor Demut. Zwei Seiten einer Medaille. Wie so oft.
Inge Lohmark ist meine Frau Kretschmar aus der Oberstufe. Zug mit Schluss durch. Mathe Grundkurs, fünf Punkte. Im Abi einen, aber immerhin. Inge Lohmark ist das literarische Fossil im Lehrerzimmer, das wir aus eigener Geschichte kennen. Und genau deshalb ist ‚Der Hals der Giraffe‘ so berührend, witzig und eine Reise ins eigene Ich, weshalb die 222 Seiten alles andere als eine Schnapszahl sind. Mein Fazit: Lesen.
- Gelesen im August 2021
- Ganz herzlichen Dank, liebe Anna, für unsere wunderbaren Gespräche und deine großartige Literaturempfehlung. Auf die schreibende Schauspielerin.
Dank Deiner Rezension habe ich das Buch endlich aus dem Regal genommen und in wenigen Stunden gelesen. Ein Glücksfall, diese dichte, genau gewogene Sprache, in der jede Plattitüde zur Charakterisierung beiträgt und man von den vermeintlich streng naturwissenschaftlichen Argumentationen (die sich oft als reine Gedankenketten und kalte Emotionsreisen entpuppen) aufs intellektuelle Glatteis geführt wird. Denn es geht ja auch um das Lohmarkige in uns – und Fragen des Überlebens, die sich heute, gut zehn Jahre nach Erscheinen, wegen der Klimakrise noch mal dringlicher stellen.
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