„Um was geht es?“ Um versteinerte Vorfahren. Um Ammoniten geht es. Früher, als hier Meer war, war hier ein Meer und hier lebten Ammoniten. Sie waren unsere Vorfahren hier in diesen Wäldern. An den Hängen der Alb lebten sie. Früher, als es noch Meer war. Der Junge, der Sohn von M., liebt Ammoniten und alles was nach Geologie schmeckt, riecht, klingt. Also nehmen Vater und Sohn Reißaus und fahren hinauf. Hinauf die Hänge der Alb und wieder hinunter. Für den Jungen ist es die erste Reise ins Land der Ahnen. Ins Land des Vaters und des Großvaters und der anderen toten Väter.
„‚Um was geht es?‘, fragte der Junge. Ich antwortete: ‚Es geht um die Serpentinen. Möglichst spät bremsen, runterschalten, in der Kurve Gas geben‘“ (S. 21). Warum Gas geben? Weger der Nazis! Alle waren sie Nazis. Der Vater, der Großvater und alle sind tot. Um sie geht es. Die alten weißen Männer, die versoffen ihre Frauen schlugen und ihre Söhne. Wolfgang, Ralf Beck. Die Flucht von der Alb, darum geht es. Davon handelt die Reise. Distanz schaffen zwischen dem alten Ich und der neuen Welt im richtigen Preußen, in Berlin. „Heute konnte ich Hochdeutsch sprechen. Die Großeltern hätten gesagt: ‚Er redet nach der Schrift‘. Ich sprach mit den Schwaben Hochdeutsch und mit den Hochdeutschen Englisch, ganz wie es nötig war, um Bildung und Weltläufigkeit zu behaupten“ (S. 77). In Elbeuropa, in Donaueuropa in ganz Europa!
Um was geht es? Die wiederkehrende Frage des namenlosen Jungen ist die rhetorische Frage als Katalysator. Es ist die Frage nach der Vergangenheit, der eigenen. Nach den Gründen, weshalb Wege so und nicht anders beschritten wurden. Nach der Zufälligkeit des Lebens. Nach Kontingenz. Darum Religion, darum das Bier der Väter. Bov Bjerg stellt Vater und Sohn in den Mittelpunkt einer mehrdimensionalen Reise. Erstens einer Reise als Verhandlung über das kollektive Ich der alten Bundesrepublik. Zweitens der inneren Zerrissenheit des Protagonisten, der immerhin als Professor für Soziologie der sozialen Enge und den Zwängen seiner Herkunft entkam. Drittens einer metaphysischen Reise. Oder besser mystischen Reise, die im deprssiven Palver nach alten Steinen und Antworten sucht, nach Zukunft.
‚Serpentinen‘ ist die konsequente Fortsetzung von ‚Auerhaus‘. Bov Bjerg schreibt auf 267 Seiten seinen Folgeroman im Heute und Hier. Er stellt die Söhne von damals als Väter von heute in ein Licht, das weit, manchmal zu weit scheint. Bjergs ‚Serpentinen‘ ist die verworrene Fahrt ins vorgestern mit kleiner großer Dramatik. Gelegentlich mit unnötigen Abzweigen ist Bjerg erneut ein bühnenreifer Roman gelungen – diesmal über die kaputte Generation unserer Eltern. ‚Serpentinen‘ ist spitz im Ton, hart im Tonfall, manchmal überzogen, meistens klar. Rasant in allen Schleifen, den Kehren und Wendungen hinauf an den Hängen der Alb.
Sein sprachliches Stakkato ist präzises Medium und zugleich Metronom einer Gesellschaft, eines Milieus, einer Klasse. „Micha sagte: ‚Man kann seine Klasse nicht verlassen. Man kann sie nur verraten.‘ Ich sagte: ‚Wer sagt das? Friedrich Engels?‘ Micha sagte: ‚Gerhard Schröder.‘“ (S. 102).
Lesen!
- Gelesen im September 2020
- Aufmerksam geworden durch das Interview von Denis Scheck mit Bov Bjerg bei Druckfrisch vom 23. Februar 2020.