Der Sommer ist vorbei, liebe Schlagerfreunde und Freundinnen des Kohlebergbaus. Es wurde umgezogen. Es wurde geheiratet. Und immer wurde geraucht dabei. In Mündendorf wird noch immer geraucht. Am Esstisch bei Kaffee und Kuchen. Auf dem Pütt. Im Krankenhaus und weit, weit weg im Ruhrgebiet. Dabei sind es ins Ruhrgebiet nur eine Stunde hin und eine Stunde zurück. Manchmal anderthalb, aber Martin fährt sie. Fährt sie hin und wieder zurück. Und raucht dabei.
‚Marschmusik‘ sind Anekdoten aus der Klamottenkiste. Das Repertoire einer Blaskapelle, die man mag und knuddeln mag und irgendwie nie genug bekommt. Martin wird der weltweit größte Posaunist im östlichen Westfalen. Jedenfalls träumt er davon und davon, wie er die Welt bereist. Zuerst von Mündendorf und dann vom Ruhrgebiet aus. Bis nach Köln, ja Köln – soweit denkt Martin nicht. Martin wächst auf als Arbeiterkind in einer Arbeiterstadt. Seine Brüder besuchen die Realschule, während die Mutter den Marschstock schwingt und Papa malocht. Maloche, immer Maloche. Und immer Kippen und Rauch und wieder Maloche.
Papa war auf dem Pütt in Bochum. Genauso wie Manfred. Geburtstag 1962 steht auf dem Foto, das Martin irgendwann in seinen Händen hält. 1962, vor dem Zechensterben. Als NRW noch die Republik finanzierte. Als Bayern nicht mehr war als weite Wiese für Kühe und SPD drei hoffnungsvolle Buchstaben für Millionen. In drei Teile gliedert auch Martin Becker seine ‚Marschmusik‘. Seine 285 Seiten im Paperback, die von einem Milieu berichten, das es heute nicht mehr gibt. Becker schreibt von sich. Dem Jungen mit der Posaune. Er schreibt von der Freundschaft seines Vater Jupp zu dessen Kumpel Manfred. Und Kumpel ist doppeldeutig. Dreifach, vierfach sogar. Kumpel meint Bergbau, meint Verbindlichkeit, absolutes Vertrauen. Mehr als Freundschaft, weil sonst ist Schicht im Schacht. Und dann, dann sind sie weg vom Fenster. Die Bergleute vom Pütt im Pott. Noch ein Bergarbeiterslogan nach Jahren unter Tage.
Und was ist mit Teil drei? Teil drei ist der Autor im Hier und Jetzt und seine Suche nach dem Früher und Damals. Der Ich-Erzähler entführt in den Berg. Berichtet vom Wetter und der Wasserkunst. Von gutem Wetter und schlagendem Wetter in einer Sprache, die rührt, berührt, anrührt und am Ende traurig macht. Gut so!
‚Marschmusik‘ ist ein Industrie- und Milieutagebuch, das der Autor über sich und seine Familie schrieb. Über seine Schicht. Und nun ist Schicht im Schacht. ‚Marschmusik‘ sind verwobene Wege. Abhängige Pfade vom Damals ins Heute und darüber hinaus. Mit warmer Steinkohle in der Hand und der Posaune im Gepäck ist ‚Marschmusik‘ die Jukebox unter und über Tage. Die Jukekox in Ihrem Bücherregal. Glück auf!
- Gelesen im Sommer 2019
- Recht herzlichen Dank dem btb Verlag für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.
2 Antworten auf „‚Marschmusik‘ von Martin Becker“