Mit gesunder Skepsis gegenüber Populärem trat ich Dörte Hansen entgegen. Nach ‚Tierreich‘ ging es nicht anders. Es war zwangsläufig, sich nach der Arbeit mit den Tieren die Mittagsstunde als Auszeit zu gönnen. Eine richtig gute Entscheidung insbesondere vor dem Hintergrund des komparativen, also vergleichenden Lesens. Mal spielen Kühe, Schafe, Hühner die Nebenrollen. Mal sind seltsame Menschen, die Dörfler, Komparsen auf kleiner Bühne. Die Hauptrolle spielt immer das Dorf. In beiden Romanen sind sie schrullige Verwandte mit großem Gestus. Viel Drama im Leben ihrer Leute. Die Jungen, die zu Alten wurden. Deren Kinder, die zu Alten werden und deren Kinder und deren Kinder.
Die Uhren laufen nun asynchron. Geburtstage, Hochzeiten, Konfirmationen. Festkalender, die auseinanderfallen. Die wenigen Alten, die blieben und halten, was sich halten lässt. „Im zweiten Februar nach der Flurbereinigung fing Firma Martensen dann damit an, die Rosskastanien zu fällen, weg mit de ganze Schiet, man gut […] Kalli Martensen und seine Leute wussten, was sie taten. Sie setzten ihre Schnitte schnell und sicher. Fallkerb, Herzschnitt, Fällschnitt. Boom fallt! Hundertfünfzig Jahre weg“ (S. 205).
Ingwer braucht lange, um zu begreifen. Sein halbes Leben, um es in Worte zu fassen. Ingwer, der Sohn des Krögers aus Brinkebüll, der in die Stadt zum Gymnasium fuhr, Studierer wurde, später Dr. Ingwer Feddersen und doch vom Dorf festgehalten wurde. In seiner Lebensrolle. Den Jungen kriegst du aus dem Dorf. Aber nicht das Dorf aus dem Jungen. Es waren die Feste im Gasthof. Und viel, viel mehr! Die Lieder seiner Kindheit, die Ingwer an langer, selten an kurzer Leine hielten. „Küsse unterm Regenbogen. Weiße Rosen aus Athen im Brinkebüller Kinderzimmer […] Er war Gefangener des deutschen Schlagers, er wurde immer noch verfolgt von Liedern im Viervierteltakt“ (S. 222). Ingwer spürt es. Er weiß es. Er hat noch Soll auf seinem Konto.
Was das Glockengeläut im ‚Tierreich‘, ist die ‚Mittagsstunde‘ zur Mittagsstunde. In beiden Fällen herrscht Ruhe im Dorf. Wo Tiere die besseren Menschen waren und Mensch und Tier gut zusammenlebten. Irgendwann, als die Kastanien gefällt waren und die neue Landstraße als Zeitenwende gebaut, begannen die alten Geister über die Geest zu schleichen. Runter zur Marsch und weiter in die See. Sie schwanden, wie das Dorf. Sönke Feddersen als Methusalem. Die Gnadenhochzeit als Kriegsdenkmal.
Vielleicht ist ‚Mittagsstunde‘ genau deshalb ein melancholischer Roman, der tanzt, der lacht, der weint und trinkt. Melancholisch, weil sein Thema das Vergehen ist. Aber auch das Werden und der Wandel. ‚Mittagsstunde‘ ist der Schnaps vom alten Feddersen, der die letzte Runde schmeißt. 319 Seiten Dorfleben auf der Geest. Dörfler und Studierer zwischen den Meeren. Ein Roman wie ‚Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht‘ (Dieter Moor), nur besser. Mein Fazit: Ein Roman geschrieben mit Liebe zu Land und Leuten. Ein Roman fürs weinende und lachende Auge. Für Großstadtromantiker und Plattdüütsch-Schnacker. Für Schlagerfreunde aus Nord-Neukölln und Musikliebhaber aus aller Welt. Für Kindheitserinnerungen und den nächsten Sommerurlaub. Kühe streicheln auf der Geest.
- Gelesen im Mai 2019
- Keine direkte Empfehlung. Eher der Wunsch nach mehr Tierreich und der Frage, weshalb die alte Zeit eine krasse Renaissance erlebt. Neue Biedermeier-Romantik oder Arbeitsverweigerung?
Moin Michael,
Deine Rezension lässt sich sehr locker lesen. Danke! Bis bald & beste Grüße Jürgen
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