‚Der traurige Gast‘ von Matthias Nawrat

Also 3,8 Millionen, bald 4 Millionen. Und wieder mehr Zugezogene. So war es immer. Zugezogene wie die Architektin. Zugezogene wie der Arzt. Alle kamen sie mit ihrem ureigenen Bild der Stadt. Freiheit! Ihrem Wunsch nach Allem, das sie nur hier zu finden glaubten. Und die Hoffnung auf Glück. Ihr persönliches Glück, ganz gleich woher sie kamen und wohin sie gehen. Oder absichtslos strandeten auf der Insel im märkischen Sand. Sie leben ihr alltägliches Leben in kultureller Zivilisiertheit. Zusammen mit 3,8 Millionen, bald 4 Millionen Anderen in Berlin.

Ein kleiner Ausschnitt der bald 4 Millionen Geschichten tritt ins Blickfeld unseres Ich-Erzählers. Es sind die zufälligen, gedankenlosen, abwendbaren Begegnungen, von denen der Protagonist berichtet. Eines Nachmittags finden wir uns im Wohnzimmer einer Schöneberger Altbauwohnung wieder. Am Esstisch der Architektin, die ihre Lebens- und Kulturgeschichte zum Besten gibt. Sie sprechen über Trügerisches und Gewissheit. Über Untiefen im Alltag, das Belanglose, die Tücken des Gefühls, sich sicher zu sein. Die dünne, hauchdünne Decke der Zivilisation. Wie die Menschen vor 80 Jahren ihrem Alltag nachgingen und im Nu zu Feinden wurden, die Kulturen vernichteten, auslöschten. Beide stammen aus sie Opole und stellen die Frage zur Diskussion: Wie fragil sind unsere Werte? Wie misstrauisch würden Sie dem Jungen an der Panke gegenübertreten?

‚Der traurige Gast‘ ist ein Roman geschrieben in Moll. Hauptrolle spielt der große Ort am Sumpf. Berlin ist Bühne und gleichzeitig Hintergrund. Bühne, weil wir in der Grüntaler Straße zum Gemüsekauf spazieren. Lesend sehen wir vor Augen, wie über dem St.-Elisabeth-Friedhof ein Flugzeug die Trauergemeinde stört. Wir sehen das alte Straßenbahndepot in der Gothaer Straße vor uns, wo heute ein Polizeifuhrpark wohnt und bald kleine Großgrundbesitzer. Und weil Matthias Nawrat im Lebensgefühl der zweiten, dritten Reihe schwimmt, ist Berlin gleichzeitig emotionaler Hintergrund. Es ist nicht das Gefühl vom hippen Berlin. Nicht Neukölln und langen Nächten im KitKatClub. Wir besuchen Refugien arrivierter Bürgerlichkeit mit Patina. Kulturvormittage in Charlottenburg und Tankstellenbesuche an der Prinzenallee, Ecke Osloer Straße.

Nawrat konstruiert auf 299 Seiten Geschichten vom Traum über eine – seine – Stadt. Erzählt vom Hoffen, vom Leben in Berlin. Vom exzentrischen Gefühl der Sicherheit in unsicheren Zeiten. Sein trauriger Gast ist traurige Metapher für alle Gäste vom Breitscheidplatz, an deren Namen nun eine Tafel an der Gedächtniskirche erinnert. Gleichsam fasst sein Titelbild Gefühle als Brennpunkt in Worte. Als Wendepunkt einer mathematischen Parabel. Erinnerungen der 3,8 Millionen an diesen Tag im Dezember. ‚Der traurige Gast‘ ist ein Roman über Westberlin in melancholisch verblasstem Glanz. Ein Roman in Bruno Ganz‘ Tonlage als Engel am Himmel über Berlin. Als im Bild hinter ihm stolz Staatsbibliothek und Philharmonie von jener kulturellen Zivilisiertheit zeugen, die unsicher und unbeständig, die stets gefährdet, aber nie schutzlos ist. Im Zweifel für die Freiheit und dieses Buch!

  • Gelesen im März 2019
  • Aufmerksam geworden durch eine interessante Besprechung in der Süddeutschen.

2 Antworten auf „‚Der traurige Gast‘ von Matthias Nawrat

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