Die Handlung ist schnell erzählt: Es ist die Geschichte vom Verteidiger Joseph Kavanagh und seinem Dienst auf der Mauer. Die Mauer ist nicht irgendeine Mauer, sondern die NKVB, die Nationale Küstenverteidigungsbefestigung. Die Mauer ist eine Art moderner Limes mit allem Schnickschnack, den sich die DDR nicht traute einzusetzen. Und selbstverständlich, liebe Leserinnen und Leser, war auch mein erster Gedanke das Bild von John Snow hoch oben mit sorgenreichem, festem Blick ins Land der Wildlinge gerichtet. Mit dem Unterschied, dass der Verteidiger Joseph Kavanagh aufs Meer blickt, sein Hauptgegner zwar ebenfalls die Kälte ist, sein Dienst aber – eine Art Pflichtwehrdienst – nur zwei Jahre dauern soll. Mit Option auf Strafverlängerung. Pustekuchen.
John Lanchester schlägt wenige Volten und das gut. Nicht nur wegen des harten Stoffs. ‚Die Mauer‘ ist sparsam und nichtsdestoweniger komplex erzählt. Ein Roman von besonderer Güte. Er firmiert unpolitisch und ist im Gegenteil zugleich vielmehr. Er ist philosophisches Handbuch. Ein Fragebogen in puncto Generationengerechtigkeit. Obwohl Joseph in einer unbestimmten Zukunft Dienst tut, ist die Dystopie seiner Gegenwart der unsrigen unwahrscheinlich nah. Auf 347 Seiten lesen wir keine Jahreszahl. Joseph spricht nur vom Wandel. Alle sprechen nur vom Wandel. Vom Wandel, als die Welt sich veränderte. Die Wüsten wuchsen. Die Meere stiegen. Als Lebensraum knapp wurde und die Welt eine andere. Als die Anderen kamen und man beschloss, die Mauer zu bauen.
Lanchester entgeht dem Vorwurf der Unterkomplexität, indem er linear erzählt, auf der Zeitachse zurückhaltend nach links und rechts ausschlägt, dafür aber geschickt im Vagen bleibt. Der dreiteilig aufgebaute Roman besticht darüber hinaus durch gelungene Spannungsbögen. Manches ist vorhersehbar – vieles erschreckend. Das verfängt. Man giert geradezu auf die unvorhersehbare Wendung. Das Unmögliche in einer faschistischen Welt des Thomes Hobbes‘ ohne Leviathan.
Denn ‚Die Mauer‘ ist das Bild einer westlichen Zukunft, das abschreckt. Was bleibt, ist die Welt der Bürger und die Welt der Anderen. Eine Dienstbotengesellschaft – welch Euphemismus. Es scheint, als höre Europa auf zu existieren und mit Europa das, was wir Rechtsstaat nennen. ‚Die Mauer‘ ist ein Roman, der nichts vom Brexit weiß. Doch es gab ihn. In dem der Wandel – der Klimawandel – die Lebensgrundlage von Milliarden zerstört. Unsere. Ich sage: Kein Wunder! Also liebe Schlagerfreunde und Freundinnen, unbedingt ‚Die Mauer‘ lesen, nachdenken und am 26. Mai 2019 ein progressives Europa wählen.
- Gelesen im März 2019
- Aufmerksam geworden durch ein Interview im Deutschlandfunk Kultur und zufällig gesehen in der Buchkantine, Dortmunder Straße 1 in Moabit.
Hallo,
ich habe „Die Mauer“ auch gelesen war insgesamt recht angetan, wie Lanchester die Situation beschreibt. Ein erschreckender Blick in die Zukunft, wie ich finde.
Viele Grüße
Jay von „Bücher wie Sterne“
LikeLike