Die Insel des Frühlings ist es, auf der Julio Baute 1919 geboren wird. Die Insel des Frühlings als britische Kolonie ohne Flagge. So immerhin geprägt von König Alfons XIII. und nach ihm zitiert von Sidney Fellows. Sidney ist Inhaber einer britischen Handelsgesellschaft, die sich auf Anbau und Export von Südfrüchten spezialisiert. Es ist ein einträgliches Geschäft mit kanarischen Südfrüchten. Bald jedoch erkennt Sidney, was um einiges ertragreicher ist. It’s the water, stupid! Er begreift es, seine britischen Freunde begreifen es, auch die Deutschen – die Spanier jedenfalls begreifen es viel zu spät, während nur die Flaggen der Handelsflotten variieren.
Wenige Jahre vor Julio erblickt Adela Moore, genannt Ada, das weiße Sonnenlicht über Santa Cruz. Ada ist Tochter eines Kolonisten ohne Flagge, der das süße Leben schätzt und seine einzige Tochter einem Trottel zur Ehefrau gibt. Gewiss hat Ada gute Jahre. Aber vor allem eine Menge schlechte. Ihr Lorenzo ist ein Bild von einem Mann, gewiss. Trägt tadellos schwarze Anzüge – nicht in beige oder grau oder weiß, wie die Bauern der Insel. Er treibt Sport. Nur leider legt er eines Tages den blauen Stoff vor Ada und ihren Freundinnen auf den Tisch. Den guten blauen Stoff, aus dem sie ihm ein Hemd nähen soll. Das blaue Hemd der Falange. Wider Willen näht sie sein Hemd und wider Willen wird sie noch manches für ihn tun. Und später, viele Jahre später wird Franco Lorenzo das Herz brechen, wie Lorenzo es Ada unter der weiße Sonne von Santa Crux gebrochen hat.
2015, immer noch Krise! Auch an den Kanaren ging die Krise nicht spurlos vorüber. Ana Baute, Politikerin und Julios Tochter, hatte das Beste im Sinn – im Interesse der Inseln, im Interesse der Partei und im Interesse für sich selbst. Filipe hingegen, den sie den letzten Konquistador nennen, verbringt seine Tage am liebsten im Club bei Whisky und den letzten Freuden gescheiterter weißer Männer. Filipe ist Adas Enkel, der schwer unter seinem Vater litt – gefühlt jedenfalls. Entschädigung genug ist das Vermögen des alten Militärs, welches ihm, seiner Frau Ana und der gemeinsamen Tochter Rosa ein Leben ermöglicht, wie es seinerzeit Sidney und Kompagnon zu führen wussten – als Kolonisten ohne Flagge.
Der Deutsche Buchpreis ist ein Preis, der gewiss nicht leichtfertig verliehen wird. Auch nach langem Abwägen, Prüfen, des inneren Diskutierens wird mein Urteil ein indifferentes sein: Einerseits, weil ‚Archipel‘ ein zweifelsohne bedeutsamer Roman ist, der empathisch und intellektuell inspirierend Gedankenräume zeichnet, die den Leser auf die grün-schroffen Inseln im Atlantik entführen. Andererseits sind die 423 Seiten einer eigentümlich zähen Sprache unterworfen, die nicht leichtgängig ist, nicht dahinfließt, wie ich mir es von einem prämierten Roman dieser Klasse wünsche.
Inger-Maria Mahlkes ‚Archipel‘ ist ein Reisebericht. Ein Reisebericht in die Vergangenheit Teneriffas – der Kanarischen Inseln insgesamt und ihrer Bewohner. Mahlke rekonstruiert die Stammbäume von Ana Baute und Felipe Bernadotte mit viel Liebe und interessantem Kniff. Denn sie invertiert. Mahlkes umgestellte, zeitlich rückläufige Chronik ist kreativ und zugleich herausfordernd für den Leser. Unklar weshalb, hinderte insbesondere der Strom hinein in die Geschichte der Bautes und Bernadottes und Teneriffas mich am großen Lesegenuss. Trotz Glossar und Personenregister ein komplexes Unterfangen, das geistiges Sich-gehen-lassen unnötig erschwert.
Nichtsdestoweniger bin ich ausgesprochen froh, ‚Archipel‘ gelesen zu haben. Liebevoll und detailreich erzählt Mahlke von ihrer Insel, mit ihren Volten und Geschichten, ihren Wunden und ihrem sonnigen Lächeln. Insgesamt ist ‚Archipel‘ überhaupt ein Roman mit viel Lächeln und großer Freundlichkeit. Ein Roman des Frühlings. Als Reiseführer lohnend, als historische Gesellschaftsliteratur bildend und als Familienroman exzellent.
- Gelesen im Februar 2019
- Ich finde, dieser Gewinnertitel des Deutschen Buchpreises ergänzt in jeder Privatbibliothek die Schnittstelle zwischen kanarischer Inselbelletristik und Reiseführern Südwestspaniens in Literaturform.