‚Die 27ste Stadt‘ von Jonathan Franzen

Es ist das Braunschweig der Vereinigten Staaten. In Missouri an der Grenze zu Illinois gelegen erstreckt sich im Hinterland ein blühendes Idyll. Ein Idyll aus sich zerfasernden Vorstädten zwischen alten Indianerfriedhöfen und neuen Autobahnen. Es ist der amerikanische Traum vom segregierten Leben in den Suburbs, während die Städte zu kriminellen Steinwüsten für Arme veröden. Man hat sich eingerichtet in dieser schönen, bequemen Welt. Die Mitglieder des Städtischen Wachstumsvereins konservieren statt zu modernisieren. Sie sind sich selbst genug und pflegen die Methoden amerikanischer Kommunalpolitik des 19. Jahrhunderts. Das ist gut. Gut für S. Jammu, gebürtige Inderin und neue Polizeipräsidentin der Stadt. Denn die erste Frau in St. Louis‘ Männerriege hat feste Absichten und klare Ziele: Die Stadt umbauen – nach ihren Wünschen zu ihren Gunsten.

Für Jammu war es ein Kinderspiel, die Mehrzahl der Mitglieder vom Wachstumsverein um ihre (schönen) Finger zu wickeln. Bei Martin Probst wollte es nicht recht gelingen. Denn Probst, erfolgreicher Unternehmer, Erbauer des Gateway Arch und Vorsitzender des Wachstumsvereins, ist treusorgender Ehemann und Vater. Ja ja, tatsächlich, denn während sich seine Freunde vom Wachstumsverein zu gern mit Schönem, Wahrem und Gutem belohnen, arbeitet Probst hart für das Wohl von Familie, Stadt und County. Dass die Bevölkerung Probst als Mann – frei von Skandalen – allgemein achtet, bescherte ihm bislang ein angenehmes, ruhiges Leben. Bislang! Denn beginnend mit dem Tod seines Hundes, werden zeitgleich Hebel bewegt, Strippen gezogen und feinsinnige Intrigen gesponnen, welche die weißen Unternehmermänner mit rosaroter Brille ziemlich schnell ziemlich alt aussehen lassen.

Mit ‚Die 27ste Stadt‘ steht Jonathan Franzen seinen weltberühmten ‚Korrekturen‘ in Nichts nach. Der bereits 1988 in den USA erschienene Politthriller besticht nicht nur durch sein feingliedriges Netz an Charakteren, die mustergültig und liebevoll ein Bild der saturierten Mittelschichtsgesellschaft in der amerikanischen Provinz abbilden. Franzen bettet seine Protagonisten darüber hinaus in ein St. Louis, dass geradezu zeitlos daherkommt. Diese Eigenschaft versetzt den Leser ganz wunderbar in die Lage, Zeithistorisches gedanklich erst gar nicht aufrufen zu wollen. Wie durch ein Brennglas wird der Leser auf das Wesentliche fokussiert.

Auf 670 Seiten erzählt Franzen von den neun Monaten einer Stadt, die prägend sind, wie wenige zuvor. Er entwirft eine Geschichte über die Macht der alten Männer, über den Einfluss von Geld, über weibliche Taktik und den kriminellen Wert patriarchaler Familienstrukturen. Über Loyalität, Abhängigkeit, Liebe, Naivität. Über Triebe und Raffinesse, über Glück, über Spionage, über die Leidenschaft, für die gute Sache einzutreten und die Skrupellosigkeit der Mächtigen. Sprachlich pointiert und inhaltlich gut strukturiert ist ‚Die 27ste Stadt‘ ein Buch für all Jene, denen der Lonely Planet zu konventionell geworden ist – für USA-Liebhaber, Politikfans, Krimibegeisterte und Optimisten. Ähnlich der ‚Korrekturen‘ tauchen wir in ein Amerika, wie es medial und literarisch nur selten kolportiert wird. Bester Lesestoff für den Winter!

  • Gelesen im November 2018
  • Zufallsfund im BuchReigen, Raumerstraße 31 in P-Berg

2 Antworten auf „‚Die 27ste Stadt‘ von Jonathan Franzen

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