Auch wenn früher nicht alles besser war, – nur sehr viel Zeit ist seitdem vergangen – erinnert sich Yvonne Goretzka gerne an ihre ersten Jahre mit Johannes. Wie er sie ansprach, damals am Müggelsee kurz nach dem Krieg. Zuvorkommend war er, ein Aspirant und bereits Mitglied der Einheitspartei, Anwärter für Höheres. Überzeugt war Johannes von unserem neuen Staate, dachte Yvonne wohlwollend zurück. Er überzeugte sie schnell vom fortschrittlichen Weg, sodass auch sie rasch Genossin wurde, Karriere machte, die Leitung des Kulturhauses in Weißensee übernahm und schließlich ins Ministerium wechselte.
Zu ihrem Vorgesetzten wurde Benaja Kuckuck, den sie beaufsichtigen sollte, so der Parteiauftrag. Vor dem Krieg war Kuckuck ein ausgewiesener Shakespeare-Experte, der seine Professur durch die Nazis 1935 verlor und nach England immigrierte. Ein beruflicher Neubeginn in Westdeutschland schien wegen seiner Mitgliedschaft in der KPD unmöglich, weshalb er in der jungen DDR sein Glück suchte. Als liberaler Sozialist galt er der Staats- und Parteiführung als unzuverlässig, was ihn von höheren Positionen ausschloss – wie die allermeisten. Aber für die Abteilung Kinder- und Jugendfilm reichte es.
Die beiden Letzten im Bunde der Weißenseer Tafelrunde sind Rita und Karsten Emser. Als stellvertretende Bürgermeisterin von Weißensee lernte Rita Yvonne früh kennen und förderte sie. Karsten und Johannes wiederum verbrachten während des Krieges gemeinsam einige Jahre im Moskauer Exil, das Emser bereits zur Zeit des großen Terrors er- und überlebte. Viele Meriten erarbeitete sich der Wirtschaftsexperte Emser und wurde von Beginn zum Mitglied des Zentralkomitees der Partei und Professor an der neuen Hochschule für Ökonomie ernannt.
„Man darf sich irren, fuhr Emser fort, aber nie gegen die Partei. Und wenn die Partei sich irrt, machst du einen Fehler, wenn du diesen Fehler nicht teilst. Man darf nie gegen die Partei recht haben, denn sie allein hat immer recht.“ (S. 241)
An dieser einen Logik, an diesem ehernen Gesetz des Staatssozialismus arbeitet sich Christoph Hein in seinem aktuellen Roman ‚Das Narrenschiff‘ auf 751 Seiten ab. Mühelos gelingt es dem 81-jährigen Autor eine umfassende Biografie über sein Lebensthema zu verfassen, der DDR. In klassischer Drei-Akt-Struktur erzählt Hein vom sozialistischen Traum auf deutschem Boden, den eine Handvoll deutscher Exilanten auf Geheiß Stalins vorantreiben. Zeit ihres Bestehens rekrutiert die DDR ihre Eliten aus jener Schar, deren paranoides und nicht selten irrationales Handeln nur durch ihre Exilerfahrung und die Zeit des großen Terrors verständlich wird.
Heins männliche Protagonisten entstammen dieser Clique und der Autor plaudert detail- wie kenntnisreich aus dem Nähkästchen der piefigen DDR-Elite, die sich durchweg selbst misstraute. Mit seiner für ihn typischen, einfachen Sprache kreiert er traummalerische Erzählwelten, die mitreißen, die fesseln, aber alle ein Problem haben: Sie sind längst auserzählt. Hinzukommt, dass Hein – oder sein Verlag – den Anspruch erhebt, eine Chronik der DDR geschrieben zu haben. Mit Fug und Recht darf Christoph Hein als Chronist des Ostens bezeichnet werden. ‚Das Narrenschiff‘ lässt jedoch so viele erklärungsbedürftige wie essenzielle Leerstellen, dass der Roman sein hoch gestecktes Ziel verfehlt.
Das allein ist undramatisch. Viel bedauerlicher ist, dass Hein überwiegend ihm verhasste DDR-Eliten portraitiert und nur in wenigen ausgewählten Passagen mehrheitsgesellschaftliche Antagonist:innen auftreten lässt, bspw. Yvonnes späteren Schwiegersohn Rudolf Kaczmarek. Zudem widerfährt es Hein hinten raus wie seinem Studienobjekt. Dem Narrenschiff bleibt der Wind weg und dem Roman geht schlicht die Puste aus. Der überbordende Romananteil bis zum Mauerbau wiegt die letzten 25 Jahre nicht auf, auch vor dem Hintergrund, dass die deutsch-deutsche-Entspannungspolitik komplett ausgelassen wird.
Am bedauerlichsten ist, dass Hein Kritik mit Bitterkeit verwechselt. Seine Schelte gegen die Goldgräberstimmung der Wendezeit ist aus persönlichen Motiven nachvollziehbar, schwächt den Roman aber inhaltlich wie formal. Hier hätte ein gründliches Lektorat nicht geschadet. Der dramaturgische Bogen, vollendet mit einer wiederentdeckten Fotografie als Kindheitserinnerung, wäre ohne Heins Jammertal ein viel stärkeres Bild. Die Alten sind tot und die Nachgeborenen sollen handlungsunfähige Opfer ihrer Biografien und der Altvorderen sein? Das ist bevormundendes Seemannsgewäsch.
‚Das Narrenschiff‘ ist ein historischer Roman, der nicht nur für Geschichtsinteressierte eine wertvolle Lektüre bietet. Ein Roman, der ambivalent ist, der vieles offen lässt und dort weit ausleuchtet, wo der Autor seine Scheinwerfer ausleuchten lässt. Ein Roman, den ich zunächst nicht lesen wollte aus Sorge vor gut gemeinten Belehrungen. Nun habe ich ihn gelesen, mit sehr viel Freude sogar, und bin dennoch ziemlich vergnatzt. Über den Ton und die Motivation, die Belehrungen des Autors und mit der Frage befasst, warum Christoph Hein über diese letzten Stöckchen wiederholt springen musste.
- Gelesen im April 2025
- Eine konkrete Empfehlung war der Roman nicht. Man konnte sich schlicht seiner nicht entziehen vor lauter guten Besprechungen.
Eine Antwort auf „‚Das Narrenschiff‘ von Christoph Hein“