‚Ungleich vereint‘ von Steffen Mau

In drei Wochen werden in Sachsen und Thüringen neue Landtage gewählt, wenig später in Brandenburg. Gespannt – mitunter sorgenvoll – blickt die aufgeklärte Republik in die vormalige (Süd)-DDR, wo rechtsextremistische Westimporte sich anschicken, die freiheitliche Demokratie begraben zu wollen. Aussagen von rechtskräftig verurteilten Faschisten wie Björn Höcke fallen auf fruchtbaren Boden. So jedenfalls lässt sich eindimensional der Aufstieg der Radikalisierungsagenten beschreiben.

Der Soziologe Steffen Mau holt weit aus und blickt im Fokus der Neo-Institutionalismen auf den gesellschaftlichen Osten. Er betont stets die regionalen Unterschiede, mitunter eklatanten mentalen Stadt-Land-Gefälle, weil ein Großteil der dortigen Gesellschaftsmitglieder sich problemlos und ohne, dass die radikalen demokratiefeindlichen Positionen mitgenommen wurden, sich im gesamtdeutschen Wir sehr wohlfühlen.

Nach der rund 20 Jahre dauernden Transformation ist der Osten seit Ende der Nullerjahre längst in der Posttransformationsgesellschaft angekommen. Seine Grundthese lautet: Man solle aufhören, den Osten als pathologischen Sonderfall zu betrachten. Viel Mentales wird – in der keineswegs monolithischen ostdeutschen Gesellschaft – auch weiterhin als kulturelles Muster tradiert. Das ist gut so! Denn wer würde von den Menschen im Saarland ernsthaft verlangen, so zu denken, zu handeln und zu leben wie die Menschen südlich des Weißwurstäquators?

„Wer sich eine Vielzahl unterschiedlichster Indikatoren anschaut – Ausstattung der Haushalte, Erwerbsquote, Kirchenbindung, Vereinsdichte, Anteil von Menschen mit Migrationsbiographie, Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Exportorientierung der Wirtschaft, Vertrauen in Institutionen, Patentanmeldungen, Hauptsitze großer Firmen, Produktivität, Erbschaftssteueraufkommen, Zahl der Tennisplätze, Anteil junger Menschen, Moscheendichte, die Lebenserwartung von Männern, die durchschnittliche Größe des Niedriglohnsektors –, der kommt immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Eine Phantomgrenze durchzieht das geeinte Land. […] Wie beim Tiefdruckverfahren tritt die Silhouette der DDR in diesen Karten noch mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung überraschend deutlich hervor.“ (S. 17/18)

Vieles hat sich angeglichen – doch viele weiche und harte Faktoren bleiben unterschiedlich. Ungleich vereint scheint die Republik. Nicht erst seit gestern gelten in den Sozialwissenschaften die neuen Bundesländer als interessantes Forschungslabor. Hier lassen sich gesellschaftliche Prozesse studieren, die Deutschland und den Westen zukünftig viel stärker betreffen werden: Demografie und massive Überalterung, ungleiche Lebenschancen im Stadt-Land-Vergleich, Sozialstruktur, Einkommen und – besonders schön – sozial-kultureller Eigensinn. Und aktuell gilt für die ostdeutsche Teilgesellschaft beispielhaft:

„Die im Osten großen Gruppe der Nichtwähler […] sowie der Personen, die dem politischen Prozess distanziert gegenüberstehen, aber (noch) nicht für rechte Parteien stimmen, sind gewissermaßen das Zünglein an der Waage. Die Kippbewegung, die sie entweder in die eine oder in die andere Richtung machen könnte, wird über die Zukunft mitbestimmen. Gehen sie nach rechts, ist die Demokratie ernsthaft in Gefahr.“ (S. 108)

„Ostdeutschland mangelt es bis heute an einem robusten sozialmoralischem und sozialstrukturellem Unterbau, der Toleranz, ein empathisches Demokratieverständnis und ein Bekenntnis zu den Prinzipien der liberalen Ordnung tragen kann […] Mit der rechten Mobilisierung wird ein zusätzlicher Keil zwischen politische Verantwortungsträger und Teile der Gesellschaft getrieben, der bis in das Verhältnis zu anderen Institutionen vordringt, letztlich bis zu allem, was mit dem ‚System‘ in Verbindung gebracht werden kann.“ (S. 112)

Das sind sehr bittere Erkenntnisse für mich als Mensch mit Osthintergrund – zwar inhaltlich keine neuen, jedoch in ihrer Schärfe. Die Gründe, weshalb wesentliche Teile jüngerer Kohorten den (ostdeutschen) ländlichen Raum verlassen haben und es weiterhin tun werden, benennt Mau klar und überführt sie in ein pfadabhängiges Erklärungsmodell. Was sind die Gründe für diesen eklatanten Männerüberhang im Osten? Wieso rissen die kommunikativen Röhren innerhalb der Familien ab, aber auch gesellschaftlich nach Unten, Oben, Rechts und Links? Werden ein geringes Gesamtvermögen und geringe Erbschaften die Sozialstruktur weiter verfestigen? Und welche neuen Pfade könnten eine „bessere“ Zukunft bedeuten?

Nach ‚Triggerpunkte‘ hat Steffen Mau quasi einen regionalen Nachtrag vorgelegt. ‚Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt‘ greift Grundnahmen von ‚Triggerpunkte‘ auf und bedient sich insbesondere im Analyseset der neo-instituionalistischen Theorien. Auf 145 Seiten zzgl. umfangreichem Literaturverzeichnis beginnt Mau einerseits bei seinem Buch ‚Lütten Klein‘ mit der These gesellschaftlicher Frakturen, und ergänzt sie um die sogenannte Ossifikation, einem Begriff aus der Medizin, der „sowohl (die unter Umständen pathologische) Verknöcherung wie auch die Regeneration nach einem Bruch [bezeichnet], nämlich durch die Bildung von Narbengewebe“ (S. 20)

Entstanden ist eine soziologische Gesamtschau zur politischen Kultur, die Fragen von Mentalität und Identität behandelt und im Ergebnis auf einen Vorschlag abzielt: Die Demokratie weiterzuentwickeln. Wird der Osten nicht neue Methoden des Demokratischen einüben, wird sich die Polarisierung und Verrohung der Lauten auf Straßen und Plätzen weiter beschleunigen. Gesellschaftlich anerkannte Bezugspersonen sind vorwiegend Handwerker und Kleinunternehmer, die durch die Abwesenheit bürgerlicher Strukturen und Honoratioren, Deutungshoheit erlangen. Zudem kommen in einigen Landkreisen Thüringens auf 100 Frauen mittlerweile 140 Männer. Gleichzeitig ist die mediale Durchdringung der meinungsbildenden Zeitungen mit Sitz in Hamburg, München und Frankfurt unterdurchschnittlich. Nur rund vier Prozent der Umsätze dieser Medien werden in den neuen Bundesländern erzielt. Parteien plakatieren stattdessen die Abschaffung des öffentlichen Rundfunks.

Diese und viele weitere Faktoren begünstigen eine Wagenburgmentalität der lauten Minderheit, die qua Demografie bald zur regionalen Mehrheit werden könnte. Obwohl sich die Insassen der Wagenburg ihrer Lage (viel weniger Frauen, keine Kinder, Fachkräftemangel usw.) sowie ihrem geringen kulturellem Kapital durchaus bewusst sind (Sprache, Mobilität, Kreativität usw.), verstärken sie aktiv Exklusionsprozesse und werden zu Trägern völkisch und rechtsextremer Haltungen. Als Werbekampagne für ein Leben in der ostdeutschen Provinz ist diese Diagnose für viele Teile urbaner Milieus wenig tauglich.

Insgesamt ist ‚Ungleich vereint‘ von seiner Haltung dinglicher und seiner Grundaussage skeptischer als ‚Triggerpunkte‘. Mau plädiert deutlich für neue Methoden, die die erstickte Demokratieerfahrung der Friedlichen Revolution reanimieren. Eine größere Experimentierfreudigkeit mit glaubhaften direktdemokratischen Praktiken und einem deliberativem Demokratieverständnis sind seine nachvollziehbaren und tragenden Vorschläge. Der hoffnungsvolle Blick in die Zukunft ist deutlich eingetrübt. Das Buch bleibt skeptisch, ob die politische Klasse – aber auch die gesamtdeutsche Gesellschaft – in der Lage sein wird, gemeinsam das demokratische System weiterzuentwickeln.

Im Fazit bin ich sehr dankbar für Steffen Maus Analyse. Sehr verständlich erklärt er Komplexes. Für Sozialwissenschaftler:innen wie mich bietet er zugleich erkenntnisreiche Hintergründe und inspirierende Erklärmuster. An der einen Stellen dürfte ‚Ungleich vereint‘ dennoch etwas pointierter sein und an der anderen deutlich tiefer. Dankbar bin ich aber auch deshalb, weil ich nach meiner Lektüre wieder um vieles klüger bin. Rationalisiert und nachvollziehbar lässt sich manches schlicht besser ertragen. Ein Gute-Laune-Buch ist es nicht, aber es lohnt unbedingt, gelesen zu werden!

  • Gelesen im August 2024
  • Herzlichen Dank, lieber Mozart, für dein Geschenk.

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