Mitte der 50er Jahre erlebt die westdeutsche Waschmittelindustrie ein konjunkturelles Langzeithoch. Die Rückkehr der weißen Westen ist allerorten Gebot der ersten Stunde. Nicht nur in den Waschküchen neu entstandener Suburbs mit organischer Reihenhausstruktur, sondern insbesondere in den Chefetagen der Politik, Industrie, Justiz und – natürlich – den neu geschaffenen demokratischen Sicherheitsbehörden. Zu dieser Zeit bekleidet Dr. Fritz Bauer das Amt des hessischen Generalstaatsanwalts mit sozialdemokratischer Haltung und freundschaftlichen Beziehungen in die Politik. Im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold kämpften sie gemeinsam gegen die SA, konnten immigrieren, entkamen den Konzentrationslagern – bestenfalls. Und 15 Jahre später blickt Bauer erneut in die kleingeistigen Gesichter von der anderen Seite mit ihren immer weißen Westen. Sein Wunsch und Antrieb: Die Täter zur Rechenschaft ziehen.
Mitten in den Aussöhnungsverhandlungen zwischen Konrad Adenauer und Ben Gurion erhält Bauer einen heißen Tipp zum Aufenthaltsort von Adolf Eichmann, Chefplaner und Exekutor der industriellen Vernichtung von sechs Millionen Menschen. Die Fährte aufgenommen, führt Bauer Gespräche mit dem hessischen Ministerpräsidenten, Kolleg:innen seiner Behörde, Freund:innen, dem Mossad. Auch wenn sein Wunsch, Eichmann in Frankfurt am Main vor ein deutsches Gericht zu stellen, nicht in Erfüllung geht, sind sowohl der Eichmann-Prozess in Jerusalem als auch die späteren Ausschwitz-Prozesse sein großes Verdienst. Sein Erfolg durch Beharrlichkeit ob aller Widerstände und oparken Alt-Nazi-Netzwerke. Dieser Volksverräter, die schwule Judensau. Die nächste Kugel gehört ihm!
Ob die Ermordung Walter Lübckes Anlass für den Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ von Lars Kraume war, wissen wir nicht. Sicher ist, dass Jenke Nordalm die Vorlage nutzte und im Stadttheater Gießen als Uraufführung auf die Bühne brachte. Eine Inszenierung, die auch vier Wochen nach der Premiere mit Standing Ovations begleitet wurde. Bleibt die Frage nach dem Wieso. Denn schlicht die wichtigste Antwort bleibt Jenke Nordalm in seiner 2:15-stündigen Arbeit schuldig: Welchen künstlerischen Mehrwert und welche theatrale Leistung bietet ‚Der Staat gegen Fritz Bauer‘ in dieser Adaption?
Dramaturgisch sehr nah an der Vorlage, verhandelt die Arbeit wenig Relevantes geschweige denn Aktuelles, sondern ergeht sich im Klamauk und Revuehaftem. Klar, der inhaltliche Nebenstrang, der die Homosexualität von Bauer und seinem Schützling Angermann thematisiert, ist im Kontext unerlässlich. Bedauerlicherweise bleiben hauptsächlich diese Bilder im Gedächtnis. Glitter und Travestie, schmalzige Schlager im Rhythmus, wo man mit muss. Gleichzeitig relativiert die reißerische Überzeichnung die Verbrechen der Täter und die schützenden Seilschaften. Eine boulevardeske Mischung aus reiner Deskription und Mittelmaß.
Andererseits ist es leicht, als Zugereister ein solches, vielleicht zu hartes Urteil zu fällen. Wird nicht Theater immer auch für sein Publikum gemacht? Die Menschen einer Stadt, die kommen sollen und zuschauen, um inspiriert zu werden? Im großen Saal saßen Jung und Alt, Familien, Studierende, Rentner:innen beisammen. Vor diesem Hintergrund haben Jenke Nordalm und sein erfrischend diverses Ensemble vieles richtig gemacht. Das Publikum applaudiert, lacht, fühlt sich abgeholt und im besten Sinne mitgenommen in die frühen Jahre der Bonner Republik. Ein Abend also im Theater als moralische Anstalt, das alles leistet, was es zum gesellschaftlichen Diskurs braucht und zur Wertebildung beitragen soll.
- Gesehen am 20. Mai 2023
- Und hier die Stimme der Nachtkritik.