Achtung, Theater! – ‚Das Vermächtnis (The Inheritance)‘ am Residenztheater München

Im Grunde ist es völlig egal, wie ein Theaterstück beginnt. Nun, links und rechts des Bühnenportals neun Männer auf der Suche nach Toby und Eric, beide Mitte 30, New Yorker Mittelschicht. Toby Darling steht vor dem vermeintlichen Durchbruch seiner Karriere. Eric Glass hält ihm den Rücken frei, stützt und unterstützt ihn – ach, Toby – auf seinem Weg geplastert mit halbseidenen Wahrheiten. Es klingelt und der schwule Freundeskreis tritt auf, tritt ein. Der Tisch ist gedeckt. Im Hintergrund schimmert die Skyline der Stadt. Kurz vor Donald Trumps Wahl diskutieren sie über den Scheideweg der Vereinigten Staaten, fabulieren im Gespräch über private Pläne und Motive und kommen doch immer wieder zu Toby und Eric, die unterschiedlicher nicht sein können.

E. M. Forster aus dem Off. Ratgeber, Stichwortgeber, Anker der Erzählung. Es klingelt und Adam tritt auf, tritt ein. Ein neues Gesicht, viel jünger – die Jugend, die uns jung hält. Und wie der Zufall es will, trifft auch Walter unverhofft wieder in das Leben von Eric. Walter, Mitte 60, andere Generation und tief verbunden mit Eric seit Jahren. Während Adam in Chicago mit Toby seinen Erstling als Bühnenfassung feiert, gewährt Walter dem einsamen Eric tiefe Einblicke in sein Leben. Wie es war, als die Seuche – Aids – eine Generation junger Männer dahinraffte und die Erkrankten geächtet wurden, ausgeschlossen, verbannt. Walter nahm sie auf in sein Haus südlich von New York. Freunde, Bekannte, Männer, die alles verloren hatten. Sein Landhaus, das Walters wohlhabender Lebenspartner ihm später überschreibt, wird Zufluchtsort für die Sterbenden und später ein Platz, der auch für Eric und viele Weitere zum Ruhepol wird.

Ein siebenstündiges Theaterepos bestehend aus zwei Teilen mit drei Pausen und im Publikum sitzt die Glitteria der Stadt. Als Netflix-Serie mit Tempo, Cliffhangern und den Themen der Zeit inszeniert, gespielt von einem energischen wie sensiblem Ensemble, ist ‚Das Vermächtnis (The Inheritance)‘ eine ergreifend hinreißende Zumutung als Eröffnung des 60. Berliner Theatertreffen. Klug strukturiert hat Philipp Stölzl die rund 100 Jahre alte Vorlage ‚Howards End‘ von E. M. Forster ins Jahr 2015 transferiert. Die Fragen blieben immer die gleichen. Vorangetrieben durch die Stimmen aus dem Off verhandeln in Stölzls Arbeit die Protagonisten ein Narrativ der universellen schwulen Community: Intergenerational über Freunde, Mentoren, glückliche Zufälle und die Verbundenheit durch Sozialisation und geteilte Biografien.

So konträr auch alle Figuren sind, so drängend ist ihre Suche nach Halt, Leben, Liebe. Ob als heteronormative Vorlage oder eigene Version eines glücklichen Lebens kreisen sie als nahe und ferne Kometen um Eric Glass und Toby Darling mit ihren Wünschen und Forderungen. Im Mittelpunkt die schwule Identität: Subtil oder vordergründig, verdrängt und ausgeblendet oder selbstverständliche Normalität. Als Gegenschablone hetzen die gesellschaftlichen Clevages der USA als Role-Back drohend von der Seitenlinie.

Als Beziehungsdrama skizziert ‚Das Vermächtnis‘ ein vieldimensionales Gesellschaftsbild zwischen unterschiedlichen Generationen und Milieus. Stölzls Arbeit kann getrost als Fortsetzung von Tony Kushners ‚Angels in America‘ gelesen werden. Getragen durch Michael Goldberg als Walter, Oliver Stokowski als Henry und Moritz Treuenfels als Unsympath Toby Darling, beweist ‚Das Vermächtnis‘, Theater kann nach wie vor mehr als Netflix und co. Im opulenten, aber passenden Bühnenbild wird gestritten, gelacht, geliebt, werden Ehen geschlossen und Menschen vernichtet, Brüche ausgefochten und mit Tränen Taschentücher nass gemacht – live und in Farbe. Mit klassischen Mitteln des Theaters, ohne Video-Sequenzen und überbordender Musik, beweist die Inszenierung am Münchner Residenztheater, dass Theater heute wie zukünftig ein Ort ist, an dem die zentrale Verhandlung über die Art und Weise unseres Zusammenlebens stattfindet. Ein großes Stück nach einem langem Theatersamstag.

  • Gesehen am 13. Mai 2023
  • Und hier die Stimme der Nachtkritik.

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