‚Gentleman über Bord‘ von Herbert Clyde Lewis

Kein Rundschreiben mehr an Henry Preston Standish? Wieso und weshalb? Wo liegen die Gründe für sein plötzliches Wegbleiben? Eine Auszeit nimmt sich der Herr, könnte die Antwort lauten. Denn Standish, 35, New Yorker Makler, Vater von zwei Kindern in glücklicher Ehe, braucht eine Auszeit. Ein Sabbatical, bevor dieser Begriff überhaupt erfunden wurde. Ein Mann, der alles hat, sucht auf großer Reise geistige Kontemplation. Standish entschließt sich, per Schiff nach Panama zu reisen, weiter nach San Francisco, bis er schließlich auf der Arabella von Hawaii zurück nach Panama fährt und durch ein wirklich dummes Missgeschick sein Gleichgewicht verliert.

„Und im selben Moment stellte er fest, dass seine Brieftasche, die das durchnässte Geld, das Foto seiner Familie und die alten Eintrittskarten für Mondscheinkneipen enthielt, sich irgendwie von seinen blau-gelben Sporthosen gelöst hatte und auf den Meeresgrund gesunken war.“ (S. 90)

Bereits 1937 unter dem Titel Gentleman Overboard erschienen, folgt endlich die deutsche Erstausgabe des Klassikers von Herbert Clyde Lewis ‚Gentleman über Bord‘ in einer hervorragenden Übersetzung von Klaus Bonn. Protagonist und Ich-Erzähler Standish wiederholt chiffriert die simple wie bedeutende Leitfrage: Was braucht ein Mensch, wenn er alles hat? Oder umgekehrt: Was braucht er nicht und was passiert, wenn er das Wesentlichste zwar wünscht, es aber unerreichbar bleibt? Herbert Clyde Lewis verhandelt diese Fragen als amüsantes Kammerspiel in Mitten des Pazifischen Ozeans mit einem Ensemble aus Schiffsleuten und einigermaßen betuchten Mitreisenden, die ihr Allerbestes geben und letztlich – ach, lesen Sie selbst.

Scotch mit Soda als Aperitif? Nicht mehr für Standish. Nach dem Sturz ins Meer beobachten seine Schicksalsgött:innen auf 153 Seiten Metaphorisches, Groteskes, Sinnierendes und letztlich Morbides in Zeitlupe. Der langsam erzählte Roman biete auf seine Art Überraschendes und ist ein Roman, der stark an „Homo faber“ oder „Die Frau in die Dünen“ erinnert. ‚Gentleman über Bord‘ ist ein Roman, der mit sprachlicher Freude und Tiefgang unterhält, dessen Inhalt zum Nachdenken inspiriert, zerstreut und gleichermaßen im Sittengemälde der amerikanischen 30er ein Memento mori singt. Rundherum ein Roman, der völlig zurecht in der Abteilung Das besondere Buch zu finden ist.

  • Gelesen im April 2023
  • Ein ganz besonderer Zufallsfund in der Buchkantine, Dortmunder Straße 1 in Moabit.

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